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Schritte im Schatten (German Edition)

Schritte im Schatten (German Edition)

Titel: Schritte im Schatten (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Doris Lessing
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Boris war ein gut aussehender Mann, jungenhaft, begeisterungsfähig, und er fuhr überallhin auf einem Motorrad, eine Tatsache, die uns bei jeder Gelegenheit unter die Nase gerieben wurde: Hier ist dieser wichtige und viel geehrte Schriftsteller, aber er ist sich nicht zu gut dafür, mit einem Motorrad zu fahren. Auf Tolstois Besitz sahen wir dessen Haus, das, wenn man bedenkt, dass dieser Mann ein Aristokrat war und Russlands höchsten Schichten angehörte, wirklich erstaunlich ist, denn es ist nicht groß, obwohl es so viele Verwandte, Kinder, Dienstboten und Gäste beherbergt hat. Vor allem ist es miserabel möbliert, und das Sofa, auf dem die Gräfin so viele Kinder gebar, steht in einem ganz gewöhnlichen, allen zugänglichen Raum und sieht aus, als wäre es für ein Höchstmaß an Unbequemlichkeit gebaut.
    Die Wälder und Wiesen sind wundervoll. Der Tisch für den Lunch war für ungefähr dreißig Personen gedeckt und stand draußen unter den Bäumen. Surkows Tochter war da, ein hübsches, fröhliches Mädchen, der Liebling ihres Vaters; er konnte seinen Blick nicht von ihr abwenden und gab uns gegenüber mit ihr an. Sie erzählte uns, dass sie vorhabe, ins Polargebiet zu reisen, und Arnold kam sofort ins Schwärmen, und er fragte sie, ob sie an einer Expedition zum Nordpol teilnehmen wolle, denn etwas Geringeres sei von einem sowjetischen Mädchen nicht zu erwarten. Sie lachte vergnügt und sagte, nein, sie fahre mit Schulfreundinnen zu irgendeinem malerischen Ort. Nur wenn ich mich an Momente wie diesen erinnere, kann ich mich in diese Atmosphäre heroischer Erwartungen zurückversetzen, die damals den Kommunismus prägten.
    Arnold und ich warteten auf Surkows Antwort, und als nichts passierte und die Zeit zum Abfahren gekommen war, baten wir ihn, mit uns ein Stückchen beiseitezugehen, aber er rührte sich nicht vom Fleck. Er entfernte sich nicht einmal einen Schritt weit von seinen Funktionären. Dann hob er die Stimme, sodass sich alle in Sichtweite umdrehen und auf ihn schauen mussten, hob die geballte rechte Faust und deklamierte: »Die Sowjetunion unter ihrem großen Führer, dem Genossen Josef Stalin, wird immer die richtigen Entscheidungen treffen, getreu den marxistischen Grundsätzen.« Er sah uns dabei nicht in die Augen. Das war offensichtlich das, was zu sagen man ihm aufgetragen hatte, nachdem der KGB unser ernsthaftes Gerede mitgehört und sich eine Formel ausgedacht hatte, die weder Surkow noch sonst jemanden in Gefahr brachte. Das sagte auch etwas über seine eigene Position aus, aber es dauerte geraume Zeit – Jahre –, bis ich diese, wie ich fürchte, allzu offensichtliche Tatsache begriffen hatte.
    Arnold und ich diskutierten über diese Antwort und gelangten zu dem Schluss, dass wir zu viel erwartet hatten. Wir gehörten einer offiziellen Delegation an, und während unseres Besuchs war er der Hauptrepräsentant der Partei.
    Wir redeten auch, wann immer wir konnten, über Stalin und die Einstellung der Menschen zu ihm. Dies war eine Zeit, in der in Erzählungen, Romanen und Memoiren unzählige Versionen des Folgenden erschienen: »Mein Traktor/Motorrad/Mähdrescher/Auto hatte eine Panne. Ich stand am Straßenrand und wusste nicht, was ich tun sollte, als plötzlich ein schlichter, freundlicher Mann mit ehrlichen Augen vor mir auftauchte. ›Stimmt etwas nicht, Genosse?‹ Ich deutete auf die Maschine. Er zeigte auf den Vergaser/den Motor/die Bremsen/die Reifen. ›Ich glaube, du wirst feststellen, dass das Problem hier liegt.‹ Er lächelte mit strenger Freundlichkeit, nickte und wanderte weiter. Mir wurde klar, dass dies Genosse Stalin gewesen war, der Mann, der sein Leben dem Dienst am russischen Volk geopfert hat.«
    Meine Einstellung zum Genossen Stalin war zu jener Zeit alles andere als ehrerbietig. Aber Arnold konnte es nicht ertragen, auch nur ein Wort gegen ihn zu hören; er gehörte zu den Leuten, die überzeugt waren, dass Stalin von seinen Mitarbeitern die Wahrheit vorenthalten wurde. Arnold litt wegen der vielen »Fehler«, die die Partei machte. Er war ein Mann, der Autorität respektieren, genau so, wie ich gegen sie opponieren musste. Er war homosexuell, gestand er – was kaum eine Überraschung war –, und sagte, vor dieser Reise sei er zu Harry Pollitt, dem kommunistischen Parteichef, gegangen und habe ihm erklärt, dass er Bedenken habe, als Homosexueller in die Sowjetunion zu reisen. Harry Pollitt hatte sich mit seinen Kumpeln beraten. Ihr Beschluss lautete, das

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