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Schritte im Schatten (German Edition)

Schritte im Schatten (German Edition)

Titel: Schritte im Schatten (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Doris Lessing
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daran wird auch die größte Marktschreierei oder Promotion nie etwas ändern, aber sie sind die besten und – insgeheim, ganz im Stillen und unaufdringlich – die einflussreichsten. Sie geben für ihre Zeit den Ton an und setzen Maßstäbe.
     
    Ich stand jetzt auf der Einladungsliste der sowjetischen Botschaft. Zu Anlässen wie dem Jahrestag der Oktoberrevolution, dem Tag der Roten Armee und dergleichen fanden riesige Empfänge statt. Ich bin zu fünf oder sechs von ihnen hingegangen. Sie haben mir nicht gefallen. Weshalb bin ich dann überhaupt hingegangen? Eine revolutionäre Pflicht kann eine Weiterführung der Pflichten sein, die unsere Eltern und Großeltern der Kirche gegenüber hatten. Noch jetzt höre ich meinen Vater sagen: »Oh Gott, muss ich da hin?« – wenn meine Mutter von ihm verlangte, dass er zum Gottesdienst in Banket mitkam. Ein Genosse: »Gehst du zur sowjetischen Botschaft, Doris?«
    »Muss ich wohl.«
    In einem prächtigen Raum – erstaunlich, wie die Vertreter der Erniedrigten und Beleidigten immer in Glanz und Gloria leben müssen – erwartete uns eine Masse von sowjetischen Funktionären. Diese waren fast alle Spione, aber das wussten wir damals nicht. Außerdem waren Parteimitglieder und Mitläufer anwesend. Zu ihnen gehörten einige bemerkenswerte Leute. Einer war J. D. Bernal, der Wissenschaftler, der wesentlich zur Entwicklung der Kristallografie beigetragen hat und Generationen von Studenten, Kommunisten und Nichtkommunisten gleichermaßen, inspirierte und von ihnen auf ewig als Lehrer verehrt wurde. Schon Ende der dreißiger Jahre mahnte er die britischen Kommunisten, sie sollten endlich begreifen, dass zwischen den Künsten und den Wissenschaften eine Lücke klaffe und wie verhängnisvoll sie sei. Das war eines der Hauptthemen kommunistischer Diskussionen. Es gab zahllose Debatten, Vorträge und Studiengruppen. Ich glaube, ich habe vor der Gruppe in Salisbury, Südrhodesien, sogar selbst einen Vortrag gehalten. Dieses Thema wurde später von C. P. Snow aufgegriffen, der es sich zu eigen machte.
    Der Vorgang verdient weitaus breiteres Interesse. Es passiert immer wieder, dass Ideen, die auf eine Minderheit beschränkt waren, insbesondere auf eine angefeindete und umzingelte, sich ausbreiten und eine ganze Kultur durchdringen. Binnen zehn Jahren waren innerhalb des Kommunismus entstandene Begriffe Allgemeingut geworden: Ausdrücke wie konkrete Schritte – wir müssen konkrete Schritte unternehmen –, innere Widersprüche, Demos, Faschisten tauchten in den Leitartikeln der
Times
auf. J. B. S. Haldane, Naomi Mitchisons Bruder, schrieb Artikel für den
Daily Worker
, in denen er neue wissenschaftliche Entdeckungen erklärte. Er war es, der uns alle begeisterte mit Sätzen wie: »Das Universum ist nicht nur seltsamer, als wir uns vorstellen; es ist seltsamer, als wir uns vorstellen können.« Ich kenne Leute, die die Zeitung wegen dieser Artikel kauften und von allem Übrigen kein Wort lasen. Später ging er nach Indien, wo er eine Generation von indischen Wissenschaftlern ausbildete. Leute wie er waren Originale, und sie hatten eines gemeinsam: Wenn sie über die Sowjetunion sprachen, war jedes Wort Unsinn. Eine Frage: Müssen sich manche Leute mit einer verhassten Minorität identifizieren, um auf anderen Gebieten Großes leisten zu können? Es gab überaus interessante Charaktere, wie zum Beispiel Hewlitt Johnson, den Roten Dekan, der ein blendendes Buch mit dem Titel
The Socialist Sixth of the World
geschrieben hatte und eine der leuchtendsten Federn am Hut der Partei war, zumal er eine führende Position im kirchlichen Establishment innehatte.
    Niemand konnte behaupten, dass die Gäste der Empfänge ein langweiliger Haufen waren, aber ich empfand die Atmosphäre als bedrückend. Ich hasste die Selbstgefälligkeit, die mit dieser Position einherging – wir, die intelligente Minorität, die Vielgeschmähten, die zu Unrecht attackierten Verteidiger der Arbeiterklasse der ganzen Welt. Aber dann passierte etwas, das mich bewog, nicht mehr hinzugehen. Zwei Männer in Militäruniformen erschienen und sagten, ich solle einem sehr wichtigen Besucher aus Moskau vorgestellt werden. Sie führten mich, einer auf jeder Seite, zu einem General – seinen Namen habe ich vergessen. Er war von Männern umgeben, die ich für Militärs hielt, aber natürlich gehörten sie zum KGB . Er war ein kräftig gebauter Mann mit Augen wie Eis, und er sprach ausschließlich im

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