Schritte im Schatten (German Edition)
aus Pullovern umgeben, und ich hatte mir außerdem noch eine Decke umgehängt. Dann sagten sie: Wir brauchen ein bisschen frische Luft, und wir stiegen ins Auto und fuhren auf eine Anhöhe, wo der Wind melancholisch um uns herumpfiff. Wir müssen einen geschützten Ort finden, riefen sie. Das taten sie, und wir befanden uns in einer flachen Senke, wo der Wind nicht weniger stark wehte und scharfe, stechende Regentropfen mit sich brachte. Da kauerten wir, aßen Sandwiches und tranken Tee aus Thermosflaschen. »Verrückt«, sagte ich mir, »diese Leute sind verrückt.« Aber heute denke ich nicht mehr so; jetzt ist kalter Regen für mich kein Grund mehr, nicht spazieren zu gehen, und ich bin ebenso verrückt wie sie.
An den Wochenenden organisierte die Partei oft Märsche, mit denen gegen dies oder jenes protestiert werden sollte, gewöhnlich vom Hyde Park zum Trafalgar Square. Peter liebte sie. Das taten die meisten Kinder. Sie waren so etwas wie Picknicks, Familienausflüge. Leute verabredeten sich telefonisch, sich dort zu treffen, vorher oder hinterher in einen Pub zu gehen, unterwegs über Parteiangelegenheiten zu reden. Ich hielt sie insgeheim für eine Fortführung der Kirchen-Picknicks. Diese Märsche oder »Demos«, ob groß oder klein, waren Bekräftigungen des Zusammengehörens, des Wir-sind-im-Recht gegen die ganze Welt. Und in diesen Tagen des Kalten Krieges konnten uns die Leute Beleidigungen zuschreien und sogar mit Gegenständen nach uns werfen, was uns in unserer Märtyrerrolle bestärkte. Jedes Mal behaupteten die Organisatoren, es seien so und so viele Hunderte oder Tausende oder Zehntausende gewesen – und die Zeitungen sagten, es seien nur halb so viele oder noch weniger gekommen. Die Wahrheit lag irgendwo in der Mitte. Einmal protestierten wir gegen die Kürzung der Mittel für die Schulbildung, die sogenannten »Butler Cuts«, und die mitmarschierenden Kinder deklamierten fröhlich »Down with the Buttercups« (Nieder mit den Butterblumen). Die Tatsache, dass es so viel Spaß macht, zu marschieren, zu demonstrieren und zu protestieren und, für einige Leute, sogar zu randalieren und sich mit der Polizei anzulegen, wird selten eingestanden. Für viele Leute waren diese »Demos« ihr gesellschaftliches Leben.
Aber im Grunde gab es nur wenige Anlässe, bei denen ich meine revolutionäre Pflicht erfüllen musste. Zum Teil wurden sie durch das beschränkt, was ich mit einem kleinen Kind tun konnte, aber die Partei verlangte auch nicht viel von mir: »Intellektuelle« traten ständig aus der Partei aus.
Einmal ging ich ins Unterhaus und wartete dort mit zwei Bergleuten, die eigens aus den Kohlegruben in Wales gekommen waren, um mit ihrem Abgeordneten zu sprechen, einem alten Freund, der früher gleichfalls untertage gearbeitet hatte. Sie ließen ihm eine Nachricht zukommen, und wir warteten und warteten. Sehr lange, mehrere Stunden. Wir freundeten uns an. Ich erzählte ihnen von meinen Erlebnissen in der Bergarbeiter-Siedlung in der Nähe von Doncaster, aber sie sagten, ihre Arbeitsbedingungen seien viel schlechter. Endlich standen wir in der großen, prunkvollen Halle mit ihren livrierten Dienern, ihren Statuen, ihrer Pracht. Der Waliser, der kam, um seine alten Freunde zu sehen, die jetzt zu seinem Wahlbezirk gehörten, deren Stimmen ihn hierher gebracht hatten, war leutselig und ein bisschen verlegen. Er erkundigte sich nach Ehefrauen und Eltern. Er sagte, er werde vielleicht in ein oder zwei Monaten nach Hause kommen. Jetzt habe er nur eine Minute Zeit, er müsse zu einer Sitzung. Ja, er sei auch der Ansicht, dass die Politik der Regierung … Und fort war er. Der Diener bedeutete uns, dass wir gehen mussten. Wir standen noch einen Moment da und sahen uns um. Dann sagte einer der Bergleute, nicht bitter, nicht zornig, sondern eher resigniert: »Jetzt, wo ich es gesehen habe, verstehe ich, was mit ihnen passiert, wenn sie hierherkommen. Nicht viele können dem hier widerstehen« – wobei er auf die marmornen Räume deutete. »Ich werde nicht noch einmal meine Zeit und mein Geld darauf verschwenden, hierherzukommen.«
Das war die Zeit, in der die Sowjetunion Zirkusse, Musiker und Tänzer nach London schickte. Die russischen Clowns waren fantastisch, wir hatten – oder haben – nichts Gleichwertiges. Aber was die Behandlung der Tiere angeht – das ist eine andere Sache. Die Konzerte, die Chöre, die Tanztruppen zeichneten sich alle durch eine gewisse Affektiertheit und Sentimentalität
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