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Schritte im Schatten (German Edition)

Schritte im Schatten (German Edition)

Titel: Schritte im Schatten (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Doris Lessing
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aus. Diese Eigenschaften bringen in den Künsten monströse Grausamkeiten hervor. Sentimentalität und Grausamkeit sind Geschwister: Die Grausamkeit trägt oft ein einfältiges Lächeln zur Schau. Jonathan Clowes berichtet, dass er einmal in einem Bus saß und eine dort liegen gelassene Zeitschrift mit etwas sah, das er für sowjetische Kunst hielt. Bei näherem Hinsehen stellte sich heraus, dass es ein Artikel über Nazi-Kunst war. Ein anderes Mal las er den
Daily Worker
, und der Maler David Bomberg, der gleichfalls den 36 er Bus benutzte, sagte ihm, wie barbarisch das Sowjetsystem sei, und er solle Arthur Koestler lesen, vor allem
Sonnenfinsternis
. Jonathan tat es, aber es war die Ähnlichkeit zwischen der sowjetischen und der Nazi-Kunst, die bei ihm den Ausschlag gab. Ein niedliches oder heroisches sowjetisches Mädchen unterschied sich in nichts von einer Nazi-Maid. Die leere Erotik eines nackten, der Zukunft entgegenstrebenden Jünglings konnte ebenso gut kommunistisch wie faschistisch sein, ebenso die banale Fröhlichkeit heroischer Soldaten, die es kaum abwarten können, für ihr Vater- oder Mutterland zu sterben. Ebenso die fruchtbaren Mütter mit den überquellenden Brüsten. Sowohl die Sowjetunion als auch Nazi-Deutschland liebten Militärparaden mit gesunden, vollbusigen Mädchen und Devuschkas, die sich alle insgeheim nach der Berührung durch Hitler oder Stalin sehnten. Vermutlich das Grässlichste, was ich je auf der Bühne gesehen habe, war eine Frau in einer sowjetischen Varietévorstellung, ungefähr vierzig Jahre alt, massig, hässlich, die ein kleines Mädchen in einem kurzen, engen Kleid spielte, affektiert, schelmisch, durchtrieben, sich vor Kokettheit windend, Babysprache lispelnd. Aber sie war dieses Mädchen, das war nicht gespielt, und durch die Macht dieser unnatürlichen Sache, dass eine Frau in mittleren Jahren ein liebreizendes Kind war, konnte sie ihren Lebensunterhalt auf der Bühne verdienen.
    Um ein Gegengewicht zu all dieser kommunistischen Propaganda zu schaffen, nahm meine Mutter Peter zur Wachablösung mit, zu Wettkämpfen der berittenen Garden, zum Tower, zu Bootsregatten, in die Museen in South Kensington und ähnlich zuträglichen Genüssen.
    An Samstagvormittagen gab es wundervolle Konzerte für Kinder in der Queen Elizabeth Hall, organisiert von Sir Robert Mayer. Peter und ich gingen an den meisten Samstagen hin, manchmal kam auch Joan mit. Mehr als einmal stand Benjamin Brittens Kinderoper
Let’s Make an Opera
auf dem Spielplan. Bis auf den letzten Platz mit – natürlich – Kindern aus der Mittelschicht gefüllte Säle. Nun, besser solche als gar keine. Was konnten Kinder aus armen Straßen oder – wenig später – aus den Sozialwohnungen mit diesen Geschichten anfangen, deren Nährboden das viktorianische Kinderzimmer ist, eine Nanny, Dienstboten, Mummy und Daddy?
    Was Peter am meisten liebte, war Naomi Mitchisons Anwesen in Schottland, wo wir drei- oder viermal waren. Dieses weitläufige Haus am Mull of Kintyre hatte Naomi im Krieg gekauft, als Zuflucht für die Familie. Zu Ostern und Weihnachten und in den Sommermonaten war es voll. Naomis Söhne waren Ärzte und Wissenschaftler, und ihre Frauen waren gleichfalls bemerkenswerte Persönlichkeiten. Sie alle luden Freunde ein. Hier gab es die berüchtigte Trennungslinie zwischen Kunst und Wissenschaft nicht, weil Naomis Freunde, Schriftsteller und Journalisten, aus London und Edinburgh kamen, und außerdem Politiker, weil Dick Mitchison selbst einer war. Naomi hatte begonnen, sich für Botswana zu engagieren, wo sie bald zur adoptierten Mutter eines Stammes wurde, und deshalb waren auch Afrikaner zugegen. Einheimische Fischer – Naomi besaß ein Fischerboot – und Lokalpolitiker mischten sich unter die Gäste aus London. Naomi ist als Gastgeberin nie richtig gewürdigt worden: Dieses Zusammenbringen von so vielen verschiedenen Arten von Leuten war eindeutig eine großartige Leistung. Vor allem waren da Kinder jeden Alters, denn ihre Familie war ein fruchtbarer Clan. Noch heute treffe ich Leute in den Vierzigern oder Fünfzigern, die sagen, dass die Ferien in Carradale House wunderbar waren, die besten Zeiten in ihrer Kindheit. Wie hätte es auch anders sein können? Das riesige Haus, voller Zimmer und Ecken und Winkel und Türmchen; die sanfte, milde Luft Westschottlands, die plötzlich anfangen konnte, zu wüten und zu toben und in all diesen Kaminen zu heulen; die Meilen von Heide und Feldern, auf denen die

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