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Schritte im Schatten (German Edition)

Schritte im Schatten (German Edition)

Titel: Schritte im Schatten (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Doris Lessing
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Kinder umherrennen und sicher und unüberwacht spielen konnten; der Strand und die Wellen des Mull of Kintyre, nur eine kurze Strecke entfernt. Es konnte sein, dass dreißig oder vierzig Leute da waren, irgendwo im Haus oder einem Anbau untergebracht. Die Stimmung war laut und ausgelassen, nicht nur wegen der Kinder. An den Abenden konnten verblüffte Fremde erleben, wie all diese namhaften Leute »Murder« oder »Postman’s Knock« spielten, wie Kinder. In der nächsten Minute gab es Schach oder ein hitziges Spiel Scrabble. Es ging oft hoch her. Die Töchter waren eifersüchtig auf Naomi, ihre überschwängliche, alles andere als zurückhaltende, intelligente Mutter, und hackten auf ihr herum. Ich dachte: Wenn ihr nicht mit eurer Mutter auskommt, weshalb verlasst ihr sie dann nicht, wie ich es getan habe, anstatt all die Annehmlichkeiten zu genießen und ihr dann das Leben so schwer zu machen? Was ich sah, war der Beginn einer neuen Ära, in der Kinder kritisieren und über ihre Mütter herfallen – und trotzdem bleiben.
    »Bin ich wirklich so fürchterlich, wie sie behaupten? Sag mir, sag mir ehrlich, was du meinst?«
    »Natürlich bist du das nicht, Naomi.«
    »Wenn ich nur halb so schlecht bin, wie sie behaupten, dann muss ich das größte Ungeheuer der Welt sein.«
    »Mach dir deshalb keine Gedanken, dass ist nur Mutter-und-Tochter-Hickhack, im Grunde seid ihr alle eine glückliche Familie.«
    »Söhne sind das Beste«, pflegte sie zu sagen. Aber ich glaube, sie sehnte sich nach einer netten, umgänglichen, freundlichen Tochter. Sie behandelte mich wie eine. Sie war liebenswürdig, großzügig, voller Neugierde über mein Tun und Lassen, hungrig auf Gespräche unter Frauen – was nicht mein Stil war – und voll guter Ratschläge, die ich mir mit jener Geduld anhörte, die ich meiner Mutter hätte entgegenbringen müssen. Ja, ich war mir der Ironie der Situation durchaus bewusst.
    Wenn Naomi Unterstützung brauchte, verließ sie sich auf ihre Söhne. Aber dies war ein Clan, und wenn er von außen bedroht wurde, rückten sie eng zusammen. Einmal war die Tochter eines bedeutenden amerikanischen Wissenschaftlers, die sich in einen Mitchison-Sohn verliebt hatte, anwesend und vergoss bittere Tränen: Der Clan hatte gegen sie entschieden. Seit ich die Schule verließ, hatte ich nie wieder ein so grausames, kaltes Ausschließen eines Menschen erlebt. Das alles ging, glaube ich, völlig unbewusst vonstatten, genauso, wie ein Tintenfisch seine Wolken ausstößt. Das Problem war, dass ich nie zuvor einen Clan kennengelernt hatte. Als Individuen waren all diese Leute reizend. Aber ich dankte Gott, dass ich nicht Teil einer großen Familie war.
    Ein Ereignis: Naomi bat mich, mit einem gewissen, ständig stummen jungen Wissenschaftler einen Spaziergang zu machen. »Und versuche ihn zum Reden zu bringen – sonst verkümmert seine Zunge.« Er hieß James Watson. Ungefähr drei Stunden lang wanderten wir über die Hügel und durch die Heide, wobei ich drauflosredete; als Tochter meiner Mutter musste ich schließlich wissen, wie man Leuten ihre Befangenheit nahm. Endlich, als ich völlig erschöpft war und nur noch entkommen wollte, hörte ich endlich ein paar menschliche Worte. »Verstehen Sie, das Problem ist, dass es auf der ganzen Welt nur einen einzigen Menschen gibt, mit dem ich reden kann.« Ich erzählte es Naomi, und wir waren uns einig, dass es die unwahrscheinlichste Bemerkung war, die wir je gehört hatten, zumal von einem sehr jungen Mann. Wenig später sollten er und Francis Crick die Struktur der DNS enträtseln.
    Ein Ereignis: Für ein oder zwei Nächte ist Freddie Ayer, der Philosoph, zu Gast. Er ist mit seiner amerikanischen Geliebten gekommen, die bald seine Frau werden sollte. Sie kommt zum Frühstück herunter, in einem hinreißenden scharlachroten Morgenmantel mit weißem Spitzenbesatz. Diese Eleganz überwältigt die schäbige Szene – wir anderen stecken alle in mehreren Lagen Wolle. Zu jener Zeit lösten die Vereinigten Staaten ständig und auf tausenderlei verschiedene Arten Neid und das Verlangen nach Nachahmung aus.
    Wenn es bei den Unterhaltungen, die man mithörte oder an denen man sich beteiligte, um Politik oder Wissenschaft ging, war der Clan unwiderstehlich, aber das galt nicht für die über Literatur.
    »Ach, der
blöde
alte Dostojewski«, konnte man hören. »Der langweilige alte Tolstoi.« Es gab nur einen Dichter, Auden. Yeats? Ach, der arme alte Yeats. Eliot? Armer alter Eliot.

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