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Schritte im Schatten (German Edition)

Schritte im Schatten (German Edition)

Titel: Schritte im Schatten (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Doris Lessing
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ermöglichte, um sechzehn Uhr Feierabend zu machen, und sie war, wie ich, ständig müde. Ihre Geschichte war damals ungewöhnlich, ist heute aber alltäglich: Sie war von einem Mann geschwängert worden, der sagte, er werde zu ihr stehen, sich dann aber aus dem Staub gemacht hatte. Kurzum, sie war eine alleinerziehende Mutter. Als sie schwanger wurde, wollten ihre Eltern ihr nicht helfen. Sie wurde von ein paar Nonnen aufgenommen, die sich auf diese Art von Philanthropie spezialisiert hatten und die sie zwölf Stunden am Tag waschen und schrubben und sie wie ein armes Mädchen aus einem Roman von Dickens auf einer harten Pritsche in einem kalten Zimmer schlafen und halb verhungern ließen. Sie war eine von einem halben Dutzend schwangerer Frauen. Als sie in den Wehen lag, wurde ihr gesagt, die Schmerzen seien die Folge ihrer Sünde. Sie und die anderen wurden den ganzen Tag beschimpft: Schlampen, Huren, Kinder des Teufels; das war kurz nach dem Krieg. Sie musste dort bleiben, weil sie nirgendwo anders hingehen konnte. Ich war zutiefst entrüstet über diese Behandlung. Ich glaube, das amüsierte sie, ihre Einstellung war:
Well, what can you expect?
Aber wenn das Akzeptieren sozialer Missstände ein Zeichen von Reife ist, was wird dann aus dem Fortschritt? Vier oder fünf Jahre später, und sie wäre vom Wohlfahrtsstaat gerettet worden. Die Geschichte hat ein Happy End. Der Mann kehrte zurück und übernahm die Verantwortung. Es war nicht leicht, mit ihm zu leben, und sie ertrug vieles, des Kindes wegen. Sie hatten zwei bescheidene Zimmer mit sehr wenig Komfort.
    Diese üble Behandlung schwangerer Mädchen oder unverheirateter Mütter ist in allen Kulturen dieselbe, immer. Gerade dieser Tage erst brachen sich die gesellschaftlichen Ressentiments wieder Bahn, durften wir zusehen, wie diese jungen Frauen, die in jeder Beziehung ein so schweres Leben haben, auf geradezu rituelle Weise beleidigt und beschimpft wurden, diesmal als gerissene Diebinnen, die sich auf Kosten des Wohlfahrtsstaates ein schönes Leben machen. Niemand kommt je auf die Idee, dass ihren Kindern etwas zusteht, dass sie etwas wert sind; nein, ihre Mütter haben Unrecht getan, und deshalb müssen sie auch bestraft werden.
     
    Als ich meine Tante Daisy und ihre Schwester Evelyn in Richmond besuchte, trat ich in eine Welt ein, die sich von der turbulenten, improvisierten Lebensweise der meisten meiner Freunde so stark unterschied, dass es für mich ein Ausflug in die Vergangenheit war. Vor mir lag ein recht geräumiges, ein wenig heruntergekommenes Haus, das einen neuen Anstrich brauchte, in einem herrlichen Garten voller Vögel. Alte Häuser begrüßen einen sehr zurückhaltend, beobachten einen durch verschwiegene Fenster, wenn man den Pfad entlanggeht, und wenn man läutet, ist es, als ob die Bewohner, einige davon Gespenster, Position beziehen, um sich mit diesem Eindringling zu befassen. Für jemanden wie mich, der über England alles aus Romanen und Theaterstücken weiß, unterhalten sich die Bewohner eines alten Hauses in Dialogen aus Romanen, die sie vielleicht nie gelesen oder von denen sie noch nie etwas gehört haben.
    Ich musste mich darauf gefasst machen, eine Enttäuschung zu sein, denn Tante Daisy war meine Patin; sie war es gewesen, die mir während meiner ganzen Kindheit Bücher über Jesus und die Apostel geschickt hatte, und jetzt war ich eine Atheistin und Kommunistin.
    Ich läutete – die Glocke war sehr laut. Waren Tante Daisy oder Tante Evelyn taub? Ich läutete noch einmal. Die Tür schwang langsam auf, und da standen zwei winzige alte Frauen, lächelnd. Beide trugen ihr bestes schwarzes Kleid mit einer geblümten Schürze darüber. Die Schürzen bedeuteten, dass sie kein Hausmädchen hatten, und ich musste meine, aus Patrick Hamiltons Roman
Slaves of Solitude
, der in diesem Teil Londons und in einem Haus wie diesem spielt, gewonnene Vorstellung über Bord werfen. Er handelt von der Mittelschicht und ihren Dienstboten, und ich hatte vorgehabt, ihn als Führer zu benutzen. Ich küsste zwei papierne Wangen, sie wurden mir hingehalten, zuerst von Daisy, dann von Evelyn. Der kleine Junge hob die Arme Daisy entgegen, damit sie ihn umarmen konnte, aber das Alter hatte sie langsam gemacht, und so streckte er ihr stattdessen eine Hand entgegen, aber dann wurde er doch von beiden in die Arme geschlossen. Die beiden standen da und bewunderten das gesunde Kind, und Tante Evelyn, die Missionarin aus Japan, sagte: »Was für rosige Wangen

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