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Schritte im Schatten (German Edition)

Schritte im Schatten (German Edition)

Titel: Schritte im Schatten (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Doris Lessing
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Möbel. Das war keine Frage von Gefallen oder Nichtgefallen. Im Gegenteil, sie hatte das schwere, dunkle Haus gehasst, in dem sie aufgewachsen war, und alles, was sich darin befand.
    Jetzt konnte sie nicht begreifen, dass das Möblieren meiner Wohnung, des ersten Ortes, den ich wirklich mein eigen nennen konnte, mit ihren Möbeln ungefähr dasselbe wäre, als würde ich mich in ihre Gewalt begeben, in ein Gefängnis der Vergangenheit gehen, mir ein Nessusgewand überstreifen.
    »Ich will sie nicht, Mutter. Verkauf sie.«
    »Du kannst doch nicht – du
kannst
doch nicht diesen Müll vorziehen …« Und sie musterte das, was meine Zimmer ausfüllte, und dann mich, und wir sahen uns an mit der üblichen hoffnungslosen, hilflosen Qual. Da hätte sie hervorstoßen können, wie sie es getan hatte, als ich ein junges Mädchen war: »Aber weshalb hasst du mich so sehr?« Oder ich: »Aber du hast mich nie gemocht, stimmt’s?«
    Was hatten Mögen und Nichtmögen, Hass oder Liebe jetzt mit irgendetwas zu tun?
    Großer Gott, Mutter, verschwinde einfach, und lass mich in Ruhe.
Nein, ich sagte es nicht. Aber ebendas sollte sie wenig später tun: verschwinden. Zuerst legte sie forsch ein paar Papiere auf den hässlichen Schreibtisch. »Das sind die Quittungen für die Möbel. Mach damit, was du willst.«
    Und dann kehrte sie nach Südrhodesien zurück. Zu ihrem Sohn.
    Die Möbel waren natürlich viktorianisch. Damals löste schon das Wort
viktorianisch
ein überlegenes oder verächtliches Gelächter aus. Bereits kurze Zeit später sollte es eine Menge Geld wert sein. Ich wollte nichts mit dem Zeug zu tun haben. Ich schrieb an meinen Cousin, den Sohn meiner Tante Muriel, und fragte an, ob er die Möbel haben wolle. Er besuchte mich, sagte, er habe für irgendwelche alten Möbel keine Verwendung. Er erinnert sich nicht an diesen Besuch. Es ging ihm damals sehr schlecht.
    Also wies ich das Lagerhaus an, das Zeug zu verkaufen, und schickte meiner Mutter den Erlös. Es lohnte kaum das Schicken, so wenig war es.
    Hier ist etwas unverständlich. Ein Vierteljahrhundert lang hatte meine Mutter ihrer besten Freundin Daisy Lane geschrieben. Als meine Mutter in London war, wovon sie all die Jahre geträumt hatte, brauchte sie einen Platz zum Leben und, wie sich herausstellte, meine Tante Daisy gleichfalls. Weshalb sind sie nicht zusammengezogen? Damals stellte ich mir diese Frage mit der verwirrten Erbitterung, die all meine Gedanken an meine Mutter begleiteten; ich konnte es nicht begreifen und dachte deshalb nicht viel darüber nach. Aber heute ergänzen sich zwei Überlegungen. Tante Daisy, jünger als meine Mutter, eine winzige, gebeugte Gestalt in düsterem Schwarz, war eine alte Frau. Aber meine Mutter, die mit siebzig noch für fünfzig durchgehen konnte, war tatkräftig und gesund. An wen hatte meine Mutter fünfundzwanzig Jahre lang tatsächlich geschrieben?
    Man muss erwachsen sein, wirklich erwachsen, nicht nur an Jahren, um seine Eltern zu verstehen. Ich war bereits relativ alt, als mir aufging, dass ich meinen Vater nie so gekannt habe, wie er wirklich war, wie er ohne diesen furchtbaren Krieg gewesen wäre. Als junger Mann war er optimistisch und robust, spielte Fußball, Kricket und Billard für sein County, machte lange Spaziergänge und – was ihm am meisten Spaß machte – tanzte bei allen Veranstaltungen im Umkreis von vielen Meilen, dachte sich nichts dabei, zehn Meilen bis zu einem Tanzvergnügen zurückzulegen, die ganze Nacht durchzutanzen und wieder nach Hause zu wandern. Der Krieg hatte diesen jungen Mann umgebracht, und an seine Stelle war ein düsterer, leicht reizbarer Mann getreten, der bald zu einem Halbinvaliden und dann zu einem Schwerkranken wurde. Wenn ich je diesem jungen Alfred Tayler begegnet wäre – hätte ich ihn erkannt? Und mit meiner Mutter, war es da nicht ähnlich? Ja, ich wusste, dass der Krieg auch sie auf dem Gewissen hatte, nicht zuletzt deshalb, weil er die große Liebe ihres Lebens umgebracht hatte, sodass sie am Ende eines seiner Opfer heiratete – und den Rest ihres Lebens damit verbrachte, dieses zu pflegen. Ich brauchte sehr lange, um das andere zu begreifen. Das junge Mädchen, das gegen den Willen seines Vaters Krankenschwester geworden war, jahrelang seine Weigerung ertragen hatte, auch nur ein Wort mit ihr zu reden. Die Frau, die alle, die ihr begegneten, durch ihre Tatkraft beeindruckte, ihre Kompetenz, ihre Unabhängigkeit, ihren Humor. Ich kann mir nicht vorstellen, dass

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