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Schritte im Schatten (German Edition)

Schritte im Schatten (German Edition)

Titel: Schritte im Schatten (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Doris Lessing
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ich, wenn ich die junge Emily Maude McVeagh kennengelernt hätte, ihr viel zu sagen gehabt hätte, aber ich hätte sie bewundern müssen.
    Ich glaube, was passierte, war Folgendes. Als sie auf dieser Farm eintraf, die immer noch jungfräulicher Busch war mit nicht einmal einem gerodeten Acker, keinem Haus oder irgendwelchen Farmgebäuden – nichts; als sie wusste, dass dies ihre Zukunft sein würde, eine einsame Zukunft wegen ihrer Nachbarn, mit denen sie nichts gemein hatte; als sie wusste, dass der auf irgendeine Form traditionellen Lebens gerichtete mittelstandstypische Vorwärtsdrang bei ihr blockiert war; als sie wusste, dass ihr Mann ein Invalide war und nicht imstande sein würde, sein Leben in den Griff zu bekommen; als sie wusste, dass nichts von alledem, worauf sie gehofft hatte, je eintreten würde – da hatte sie einen Zusammenbruch und legte sich einfach ins Bett. Aber Worte wie »Zusammenbruch« und »Depression« wurden damals nicht so verwendet wie heute: Leute konnten unter Neurasthenie oder Niedergeschlagenheit leiden. Sie sagte, sie habe ein krankes Herz, und glaubte es vermutlich sogar selbst, während sie im Bett lag, mit vor Angst klopfendem Herzen, und hinausschaute auf den Busch, in dem sie sich nie heimisch fühlen würde. Sie lag dort monatelang und sagte zu ihren kleinen Kindern: »Arme Mummy, arme, kranke Mummy«, bettelte um deren Liebe und deren Mitgefühl, und das sah ihr so unähnlich, dass es mir Veranlassung zum Nachdenken hätte geben müssen. Und dann verließ sie dieses Bett, weil ihr nichts anderes übrig blieb. Aber
wer
verließ dieses Bett? Nicht die junge Emily Maude (inzwischen war sie zu Maude geworden, die Emily war verschwunden, sie hatte den Namen ihrer Mutter abgelegt). Die, die dieses Bett verließ, war eine Frau, die ihren Kindern erklärte, sie habe ihr Leben für sie geopfert, sie seien undankbar und gefühllos – die ganze Litanei der Vorwürfe, die das Arsenal des weiblichen Märtyrers bilden. Ein Geschöpf, das sie, da bin ich ganz sicher, gehasst und verachtet haben würde, als sie noch sie selbst und jung und nicht vom Krieg gezeichnet war.
    Sie kehrte nach vier enttäuschenden Jahren in England nach Südrhodesien zurück, teilte ihrem Sohn und seiner Frau – abermals – mit, dass sie ihnen ihr Leben widmen wollte, und ihre Schwiegertochter sagte – abermals – zu ihrem Sohn: Entweder sie oder ich. Und sie begann eine Serie von Besuchen bei Freundinnen. In den Briefen, die sie schrieb, stand: Ich hoffe, ich kann mich nützlich machen, ich will niemandem zur Last fallen.
     
     
    Das schönste Ergebnis der Reise mit
The Writers’ Group
in die Sowjetunion war, dass ich mich mit Samuel Marschak anfreundete, einem prominenten sowjetischen Autor, Gewinner des Stalin-Preises für Literatur. Er war Dichter, übersetzte Burns und Shakespeare, schrieb Kinderbücher. Damals entschieden sich viele Autoren, die wegen der Verfolgung ernsthafter Literatur nicht schreiben konnten, was sie für richtig und wichtig hielten, fürs Übersetzen; das ist der Grund für das hohe Niveau russischer Übersetzungen. Als ich in der Sowjetunion war, hatte er nicht mehr Eindruck auf mich gemacht als die anderen. Aber plötzlich bekam ich einen Anruf von der sowjetischen Botschaft. Das muss 1954 oder 1955 gewesen sein. Ob ich Samuel Marschak in seinem Hotel in Kensington aufsuchen würde? Die Verhältnisse hatten sich etwas gelockert, seit Stalin gestorben war, aber ich war trotzdem auf der Hut. Danach wurde ich immer angerufen, wenn er nach London kam, und das geschah mehrmals, und wir trafen uns. Ich kam gewöhnlich zwischen neun und zehn abends, wenn das Kind schlief, und blieb bis vielleicht ein oder zwei Uhr. Während dieser Zeit hörte ich einfach zu. Als sehr junger Mann war er mit seiner ersten Frau in London gewesen. Das war vor dem Ersten Weltkrieg. Sie hatten kein Geld, aber sie waren verliebt, ineinander und in London. Das sei die glücklichste Zeit seines Lebens gewesen, erzählte er mir. Er wollte über dieses alte London reden, das British Museum, Ausflüge aufs Land, die Parks, die Buchhandlungen. Ich erinnerte ihn an jene Frau, sagte er. Aber dann starb sie, und er heiratete eine andere. Sie starb im Zweiten Weltkrieg an Hunger und Kälte. Er redete gern über das, was dieser Krieg für die Russen bedeutet hatte.
    Ich saß in einem Sessel, er saß in einem anderen und redete sich in die Vergangenheit hinein. Manchmal reckte er die Finger seiner auf der

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