Schroders Schweigen
einfach ertragen.«
»Na gut.«
»Du musst es einfach ertragen. Irgendwann ficht es dich nicht mehr an – wenn deine Mutter und ich mal nicht mehr da sind. Es ist in Ordnung, erleichtert zu sein, wenn andere Menschen sterben. So was sagt einem nur niemand.«
Sie starrte mich an.
»Glaub mir«, sagte ich.
»Na gut.«
Ich wischte mir übers Gesicht.
»Schau dich an –« Schniefend zupfte ich an ihrem T-Shirt. »Deine Sachen sind ja noch feucht. Vielleicht hast du deswegen gerade wieder Asthma. Wie wär’s, wenn du dir hinten im Auto deinen Schlafanzug anziehst? Ich werf dann so lange mal einen Blick auf die Karte. Ja?«
»Weißt du nicht mehr, wie wir nach Hause kommen?«
»Ich weiß, wie wir nach Hause kommen. Mach einfach, was ich sage. Ja?«
Ich fuhr an, weg vom Straßenrand, und drehte mit quietschenden Reifen. Ich spürte, dass Meadow mich beobachtete. Ich wusste nicht, was ich sagen sollte zu meinen Tränen. Es gibt nichts dazu zu sagen, auch jetzt nicht.
»Weißt du, was mir gute Laune machen würde?«, sagte ich.
»Was denn?«
»Ich würde gern einen sehr großen Berg sehen. Mit dir zusammen.«
»Ist gut. Gibt’s hier irgendwo einen?«
»Na klar. Hier sind überall Berge.«
»Gut. Ich hab nämlich Montag Schule.«
»Richtig, da war ja noch was.« Wieder konnte ich in der Ferne das orangerote Leuchten von Plattsburgh ausmachen. »Wann wirst du da eigentlich mal entlassen? Glauben Katholiken nicht an den Sommer? Es ist doch schon heiß, in Herrgotts Namen. Die Brombeeren sind reif. Draußen tobt das Leben.«
»Ich weiß nicht. Im Juni, glaub ich.«
»Wir haben Juni, Hase. Zieh dir mal deinen Schlafanzug an, ja?«
Auf der Rückbank öffnete Meadow ihre Gürtelschnalle und legte ihre Brille zur Seite. Nach einer Reihe von Verrenkungen und Armdrehungen schob sie ihren Kopf aus dem Kragen, strich den Stoff glatt und setzte sich wieder die Brille auf die Nase. Im Scheinwerferlicht der Autos hinter uns schimmerte ihr Kopf wie ein elektrostatischer Stern. Lächerlich, wollte ich sagen, diese ganze Plackerei, welch endloses Prozedere dieses Leben doch ist. Ich wollte mich dafür entschuldigen.
»Ich habe eine Idee«, sagte ich. »Du kannst ja sagen oder du kannst nein sagen. Klar?«
»Ja.«
»Wie wär’s denn mit« – ich ließ die Hand vor der Windschutzscheibe schweifen – »Mount Washington. Der höchste Berg im Nordosten der Vereinigten Staaten. Heimat der höchsten Bodenwinde, die jemals aufgezeichnet wurden. Und das Tolle am Mount Washington ist, dass man mit dem Auto bis zum Gipfel fahren kann. Bis ganz oben rauf, wo man Brathähnchen essen und sich einen Aufkleber für die Stoßstange kaufen kann.«
Meadow hörte zu ohne sichtbare Regung.
»Aber es könnte ein paar Tage dauern«, sagte ich. »Wenn du gewillt wärst, könnten wir eine richtige Reise draus machen. Wir könnten zwischendurch anhalten. Ein bisschen die Gegend aufmischen, weißt du. Es ist lange her, seit wir – wir haben nicht sehr viel Zeit miteinander verbracht. Bei dem ganzen Hickhack zwischen mir und deiner Mutter.«
Meadow war nachdenklich. Auf ihrem Nachthemd prangte die vergrößerte Abbildung eines blonden Mädchens, das in ein Mikrofon singt. Die Pupillen des Mädchens waren mit Glitzer gefüllt. Meadow zog sich den Sicherheitsgurt über die Brust und betrachtete mich im Rückspiegel.
Ich lächelte forsch. »Ich schreibe deinen Nonnen gern eine Entschuldigung.«
»Ich werde nicht von Nonnen unterrichtet«, verbesserte sie mich. »Nur in Musik und Religion.«
»Dann eben den gottlosen Laien, die dich in den anderen Fächern unterrichten.«
Meadow schenkte mir ein säuerliches Lächeln. Ich liebte ihr säuerliches Lächeln, ein Zeichen von frustrierter Intelligenz. Ich wollte nicht, dass sie frustriert ist, aber wenn sie intelligent war, würde sie nicht drum herum kommen. Mir kam sogar der flüchtige Gedanke, dass sie mir einen Korb geben könnte. Vermutlich verließ ich mich irgendwie auf sie, um uns zu retten.
»Na gut«, willigte sie achselzuckend ein.
»Wirklich? Bist du sicher? Du würdest ein paar Tage Schule verpassen.«
»Ist schon gut.«
»Wirklich? Toll. Toll . «
»Natürlich«, fügte sie hinzu, »muss ich erst mal Mama fragen.«
Mein Mut sank. Sie hatte pflichtbewusst die Kompromisslösung gefunden, die uns alle davor bewahren würde, zu bekommen, was wir wollten. Wieder waren wir Gefangene unserer selbst.
»Ganz ohne Frage«, sagte ich und schluckte Galle hinunter. »Wir suchen uns
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