Schroders Schweigen
eine Telefonzelle, und gleich morgen früh rufen wir Mama an. Mal gucken, was sie sagt.«
»Na ja, vielleicht nicht gleich morgen früh«, lenkte sie ein. »Einfach irgendwann unterwegs.«
»Okay, Hase. Lieb von dir, dass du an Mama denkst.«
»Wie viele Tage wird das dauern?«
»Wie viele Tage hättest du denn gern?«
Sie kniff die Augen zusammen. »Sechs?«
»Sechs ganze Tage? Das ist toll. Das ist fast eine Woche.«
»Weil ich nämlich sechs bin.«
»Deine Glückszahl. Sechs Tage haben wir schon seit – seit einer Ewigkeit nicht mehr zusammen verbracht.«
»Und in der Schule lerne ich sowieso nicht so viel. Ich weiß schon das ganze Zeug aus dem Unterricht. Lesen und so. Das konnte ich schon als Baby.«
»Das tut mir leid, Meadow. So was macht mich fertig.«
»Also, ich würde echt gerne auf den Mount Washington fahren. Aber ich hab Hunger. Kann ich einen Donut haben?«
»Klar. Na klar. Ich bin sicher, dass wir irgendwo hier in der Gegend einen Donut für dich auftreiben können …« Wir blickten hinaus in die Landschaft, eine dichte Mauer aus urwüchsigem Wald zu beiden Seiten der Straße. »Oder vielleicht in Plattsburgh. Ich wette, es gibt zigtausend Donuts in Plattsburgh. Du kannst sie alle haben.«
Aber als wir Plattsburgh erreichten, war sie schon wieder eingeschlafen. Ich kann mir die Träume nur vorstellen, mit denen ihr Unbewusstes ihr erklärte, was sie da gerade wahrnahm: das Wummern der Lastwagen, die sich neben die PKWs reihten, das gewaltige Scheppern der Fähre, die ihre Rampe herunterließ, und das Gefühl, wie sich die Wagenräder von der Erde lösen und auf einem anderen Untergrund weitergleiten …
Es war 1:05 Uhr morgens.
Die Fähre Plattsburgh–Grand Isle war erstaunlich gut besucht. Auf ein Zeichen hin fuhr ich auf das Parkdeck, stellte den Motor ab, saß da und ließ den Arm aus dem Fenster baumeln. Eine Brise vom See zog über das Deck. Meadow schlief auf der Rückbank weiter. Ihr Schlaf hatte jetzt schon etwas Tiefes, Verleugnendes.
Ich öffnete die Tür und stieg aus dem Wagen, nickte dem Fernfahrer zu, der hinter uns oben in seiner Fahrerkabine herumsaß. Dann überquerte ich das Deck und ging die Metallstufen hinauf zum Passagierdeck. Ich verzog mich ganz in die Ecke, von wo aus ich den Mini nicht sehen konnte. Ich beugte mich über die Reling und sah tief in den See hinein. Es war seltsam. Plötzlich wollte ich von ihr weg. Das heißt, ich wollte weg von meiner Liebe für sie. Ich hatte ganz vergessen, welcher Strudel entsteht, wenn man ein Kind liebt. Weil ich mir mehr als alles andere wünschte, mit meiner Tochter zusammen zu sein, und doch wollte ich davon frei sein. Ich wollte frei sein von diesem Wunsch, weil ich wusste, dass unsere gemeinsame Zeit ein Ende haben würde. Du, ich, der Tod, ihre Jugendjahre – was würde dem ein Ende setzen? Was immer es war, ich hätte es nicht in der Hand.
Manche Dinge vergisst man nicht.
Man muss sie einfach ertragen.
Lake Champlain war dunkel wie Öl. Am Ufer flackerte eine Perlenkette aus fernen Lichtern. Vom Aussichtsdeck aus sah ich die seltsamsten hauchzarten Nebelschlieren über dem schwarzen Wasser schweben. Es gibt stille Menschen, und es gibt auch sehr stille Dinge. 4 Die seltsame Stille dieses spiegelglatten Sees wurde unterbrochen von Popmusik, die mal stärker, mal schwächer irgendwo aus einem Radio drang. Die Musik weckte mich, rüttelte mich wach, und ich schrak zurück vor meiner tollkühnen Beugung über die Reling. Ich dachte an den LKW-Fahrer oben in seiner Kabine, der sich bestimmt fragte, was zum Teufel ich mir dabei dachte, sie auch nur einen Moment lang allein zu lassen. Ich rannte die Metalltreppe hinunter. Auf der Rückbank des Mini schlief meine Tochter noch immer tief und fest. Das Hinterland kam in Sicht, und die Schiffsmotoren wurden gedrosselt. Nun würden wir den Rest der Strecke einfach übers Wasser gleiten. Der Staat New York lag hinter mir. Wir waren in Vermont.
ZWEITER TAG
Am nächsten Morgen erwachten wir mit steifem Nacken in unserem Auto in Grand Isle, Vermont, und überall um uns herum waren Hühner. In der Nacht zuvor hatte ich den Mini irgendwo in der Dunkelheit geparkt, und zu meiner Freude sah ich bei Tageslicht, dass ich uns gut versteckt hatte. Das Auto stand auf sandigem Untergrund hinter einer Reklametafel für Vermonts großes Maislabyrinth. Bis auf die Hühner und die Straße gab es keinerlei Spuren von Zivilisation.
In jedem anderen Kontext wäre ich nun losgegangen und
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