Schroedingers Schlafzimmer
selbstverständlich waren. Onkel Stefan gehörte, im Gegensatz zu Dos Vater, zu jenen glücklichen Naturen, die sich keine Gedanken machten über Dinge, die in zwanzig Jahren niemanden mehr interessierten. Mit der Zeit kam er häufiger, erschien nicht nur bei Festen im Wohnzimmer und bediente sich an der Bar, sondern stand auch schon mal nachmittags vor der Haustür, und jedesmal hatte er eines seiner kleinen Geschenke dabei, das war für ihn gar keine Frage.
Am eindrücklichsten aber war sein Federballspiel. Einmal hatte er zwei nahezu gewichtslose Schläger und eine Dose voller ineinandergeschobener Bälle (»das Nonplusultra: mit Korkfuß und Nylonfedern«) mitgebracht und mit Dos Mutter auf dem Rasen einen langen Ballwechsel hingelegt, in dem sich halbernste Attacken mit längeren Phasen des ruhigen Hin-und-Hers abwechselten. Do, die den beiden voller Faszination zusah, hatte nicht gewußt, daß ihre Mutter eine passable, schlagsichere Federballspielerin war. Doch mit Onkel Stefans Variationsreichtum war ihr Spiel nicht zu vergleichen: Leichtfüßig sprang er in seinen geflochtenen rehbraunen Lederslippern mit Fransenlasche über den Rasen, ließ seinen Schläger mal hierhin mal dorthin schwingen, rund und raumgreifend wie einen Dirigentenstab, und retournierte den Nylonball |96| mal mit einem leisen Flüstergeräusch wie einen masselosen silbrigen Luftwirbel, der im perfekten Parabelbogen den Schläger von Dos Mutter nahezu von alleine zu treffen schien. Oder er ließ ihn per Volley zu einem massiven Geschoß werden, das wie mit dem Lineal gezogen auf einen für seine Partnerin fast unerreichbaren Punkt zusauste – aber eben nur fast, denn er wollte den Ballwechsel ja nicht wirklich beenden, sondern es genügte ihm völlig, en passant seine Klasse durchblitzen zu lassen. Oder aber er verwandelte den Ball mit einem lässig aus dem Handgelenk geschüttelten Slice in eine lahme Ente, so daß Dos Mutter alle Zeit der Welt hatte, zwischen zwei Schlägen zu verpusten und sich neu zu orientieren. Und bei all dem lächelte er sein breites Froschlächeln, zeigte nicht das geringste Zeichen körperlicher Ermüdung und hatte stets noch genügend Zeit und Atemluft, das Spielgeschehen mit kleinen amüsanten Kommentaren zu würzen wie: »Hauptsache man kriegt ihn hoch, egal wie«, oder: »Jetzt lasse ich ihn mal abgehen wie eine Rakete!«
Erst sehr viel später, mit neunzehn oder zwanzig, machte Do sich klar, daß Onkel Stefan ein paar Jahre lang der Hausfreund und Liebhaber ihrer Mutter gewesen war. Sie waren wohl bis zu dem Tag ein heimliches Liebespaar, da er seine Geschenkpapierfabrik schließlich verkaufte, um sich in der Schweiz am Genfer See niederzulassen. Manchmal, nachdem sie den Nachmittag bei Freundinnen verbracht hatte, waren Do bestimmte Zeichen seiner Anwesenheit aufgefallen: die Federballdose, die geöffnet im Regal stand, und die metallicblauen Schläger, die gekreuzt auf dem Rasen lagen. Onkel Stefan, der Sakkotaschenzauberer |97| und Federballmagier, hatte auch ihre Mutter verzaubert, mit den Mitteln seines Alleskönnercharmes. Doch als Do die Natur der Beziehung zwischen ihrer Mutter und Onkel Stefan durchschaute, war es für Vorhaltungen längst zu spät. Nach zwei Herzinfarkten war er nur noch ein Schatten seiner selbst, der in einem Sanatorium auf den Tod wartete.
Do fragte sich damals, ob ihr Vater von dem Verhältnis gewußt hatte. Sie konnte sich nicht vorstellen, daß ihm all die vielen Zeichen entgangen waren, die sie selbst mit ihren acht Jahren noch nicht zu deuten gewußt hatte. Doch konnte sie sich nicht erinnern, daß es zwischen ihren Eltern jemals zu einem außerordentlichen, über das Alltägliche hinausgehenden, alles bedrohenden Streit gekommen wäre. Niemals war seitens ihres wortkargen Vaters, der sein Leben, je älter er wurde, mehr und mehr hinzunehmen schien wie eine tägliche Ration Schicksal, die ihm von irgendeiner Instanz zugeteilt wurde, von Trennung oder gar Scheidung die Rede gewesen. Niemals hatte er ihrer Mutter eindeutige Vorwürfe gemacht, doch gerade dadurch war es um so schrecklicher, als er von einem auf den anderen Tag das Haus verließ, um in eine kleine dunkle Mietwohnung zu ziehen. Er ließ ihrer Mutter (und in Wahrheit wohl: Do) den Bungalow, und sie lebte heute noch darin. Der Garten war inzwischen allerdings dunkel geworden, weil sich die Baumkronen über ihm geschlossen hatten, in einem dunklen Parabelbogen, der in etwa dem Verlauf eines hohen Federballflugs
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