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Schroedingers Schlafzimmer

Titel: Schroedingers Schlafzimmer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulrich Woelk
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und antennenartig aufgerichtetem Schwanz, als empfange sie ihre Weisungen direkt von
ihm
, wagte sie sich geduckt ins offene Gelände des Rasens, überwand ihre Scheu und huschte auf die Reisigmatte vor der Terrassentür. Do fühlte, daß sie herausgefordert wurde. Es konnte kein Zufall sein, daß er sie gerade jetzt lockte, jetzt da sie allein war und unglücklich. Sie wurde wütend auf
ihn
. Es ging um ihren Willen, um ihre Selbstbehauptung, und sie würde sich ihm widersetzen. Sie räumte die Espressotasse in die Spülmaschine und beschloß, Schrödingers Katze zu ignorieren. Er selbst hatte es ja gesagt: Nur das war real, was man Realität sein ließ.
    Aber war das so? Ließ sich die Realität fortdrängen wie ein unliebsamer oder gefährlicher Gedanke? Do bekam Kopfschmerzen. Sie konnte die Wirklichkeit nicht ignorieren. Würde sie es tun, würden ihre Depressionen nur schlimmer werden, denn so war es bei ihrem Vater gewesen. Irgendwann hatte er die Realität und die Untreue seiner Frau nicht mehr sehen wollen und damit jede Chance auf Heilung verwirkt. Seitdem mußte er mit seiner Krankheit leben. Und das wollte Do nicht. Sie wollte nicht das Schicksal ihres Vaters erleiden und öffnete die Wohnzimmertür. Josephine (wie hätte es auch anders sein sollen?) saß aufrecht auf der Terrasse, schwarz und reglos, geformt wie ein dunkles Schlüsselloch. Do ging zu ihr, und das |152| Tier rieb seine Flanke an ihrer ausgestreckten Hand. Das Fell war naß und kalt, Mitleid erfaßte Do. Sie stand auf, um ein Handtuch aus der Küche zu holen. Und nachdem sie das Tier abgetrocknet hatte, rief sie den Zauberer an.
    Er sagte: »Sie büchst immer aus, dieses Biest. Aber ich freue mich, Ihre Stimme zu hören, Do. Tag für Tag schärfe ich Josephine ein, daß sie sich nicht in den Nachbargärten herumtreiben soll, aber ich könnte ihr ebensogut befehlen, mit Messer und Gabel zu essen – es liegt einfach nicht in ihrer Natur. Wenn sie doch nur nicht so einen sagenhaft schlechten Orientierungssinn hätte! Gott, ich finde, was ihr an räumlichem Denkvermögen fehlt, gleicht sie durch Charme wieder aus. Im Moment wäre es für mich übrigens ein Riesenproblem, hier zu verschwinden, Do, ich bastle gerade an einer großen Sache rum. Ich wollte überhaupt nicht ans Telefon gehen, aber mein sechster Sinn hat mir befohlen: tu’s! Wie sieht denn Ihre Tagesplanung oder, sagen wir, Ihr Programm für das nächste Stündchen aus?«
    Do sagte: »Ich habe eigentlich nichts vor   … also ich meine, ich hätte hier schon noch eine Menge zu tun, aber es ist nicht so wichtig.«
    »Na bestens«, rief der Zauberer, »dann kommen Sie doch gleich rum. Aber wirklich nur wenn es Ihnen paßt! Sie kriegen meinen berühmten Latte macchiato, oder was immer Sie wollen. Schnappen Sie sich Josephinchen und rücken Sie an. Mit
Ihnen
geht sie mit, Do, da bin ich mir absolut sicher. Mit Ihnen ja.«
     
    |153| Do ließ den Hyundai-Minivan, den sie für ihre Einkaufs- und Kinderbeförderungsrunden nutzte (während Oliver üblicherweise mit dem Lupo ins Geschäft gondelte) langsam an den Gartenzäunen entlang rollen. Josephine hatte sich bereitwillig zum Wagen tragen und auf den Beifahrersitz legen lassen. Im Regen hatten sich die Baumkronen zu einer graugrünen Masse zusammengeballt, und neben den Gartentoren standen schwere dunkle Mülltonnen, die darauf warteten, geleert zu werden. In ihrer monoton postierten, lückenlosen Gleichheit kamen sie Do wie uniformierte Wächter vor, finstere feindselige Beobachter ihres fragwürdigen Tuns. Sie warf sich vor, daß sie schon wieder zu passiv gewesen war, zu entgegenkommend, zu weich. Die wenigen Schritte, die sie mit Josephine durch den Regen gegangen war, hatten ausgereicht, ihre Haare und ihre Kleidung feucht werden zu lassen. Der herbe Geruch der Nässe breitete sich im Wagen aus. Es war kühl, sie fror beinahe und hätte sich gerne ebenso in sich zusammengerollt wie das Kätzchen auf dem Beifahrersitz. Sie hatte sich beim Hinausgehen keine Jacke übergezogen, offenbar auf Geheiß ihres Unterbewußtseins, um sich zu beweisen, daß sie eigentlich gar nicht fortging. Sie nahm sich vor, die Milchkaffee-Offerte des Zauberers auf gar keinen Fall anzunehmen, sondern umgehend kehrt zu machen. Und außerdem nahm sie sich vor, ihr Leben und ihren Charakter zu ändern: Sie mußte selbstbewußter, sie mußte egoistischer werden.
    Schrödinger hatte den Latte macchiato bereits fertig: brauner Kaffee und weiße Milch in zwei

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