Schroedingers Schlafzimmer
Moleküle. Wo kamen sie her? Wer oder was produzierte diese Materiereste, die Oliver und sie und die Kinder Nacht für Nacht wehrlos einatmen mußten? Und war es denn nicht unvermeidlich, daß all diese Abermillionen Partikel ihnen irgendwann die Lungen verkleben und verstopfen würden? |146| Man las jetzt soviel über Feinstaub. Wieviel Luft bekam sie überhaupt noch? Auf einmal kam es ihr wenig vor. Reglos und mit geschlossenen Augen maß sie ihre Atemzüge und empfand sie als unnatürlich kurz. Mit aller Muskelkraft des Oberkörpers weitete sie ihre Lungen, zwang Luft in sich hinein, fühlte sie einströmen, durch die Nase, weil dort Unmengen von winzigen Härchen auf den Schleimhäuten wuchsen, die in der Lage waren, den Staub herauszufiltern. Doch irgendwo unterhalb ihres Brustbeins und oberhalb des Bauchnabels war eine Barriere für ihren Atem, die sie nicht durchdringen konnte, so sehr sie sich auch anstrengte. Endlich stieß sie die Luft wieder aus, dieses verunreinigte Element. Sie fragte sich, ob es diese Barriere immer schon gegeben hatte? Sie erinnerte sich an ihren sportlich erhitzten Leib als Jugendliche und junge Frau. Sie hatte Volleyball in der Damenoberliga im Kreis Schleiden gespielt, und niemals hatte sie dabei empfunden, was sie jetzt empfand: zu wenig Luft zu bekommen, eingeschnürt zu sein in das Korsett ihres Körpers. Mit allen Sinnen fühlte sie auf einmal diese Begrenztheit, diese Enge ihres Leibs, auf dessen Raumvolumen sie für immer eingeschränkt sein würde, ein unaufhaltsam schrumpfendes Volumen, das sich anfüllte mit so viel anderem: mit Staub, mit Cholesterin, mit Krebs. Vielleicht alterte man ja nicht im eigentlichen Sinne, sondern wucherte innerlich zu, verschlackte und versandete, wurde immer mehr in die Randzonen des eigenen Körpers abgedrängt bis kein Platz mehr übrig war für beides: den Staub
und
die Seele. Und auf einmal hatte Do das Gefühl, daß sie nicht das Haus sauber machte, sondern gegen den Tod ankämpfte.
|147| Doch gleichzeitig beruhigte sie das vertraute düsenhafte Dröhnen des Staubsaugers. Das Geräusch erinnerte sie an den vergangenen Herbst, als sie über das Rollfeld von Puerto Rosario auf Fuerteventura gegangen waren, vorbei an den auslaufenden Triebwerken der Maschine, die sie in weniger als fünf Stunden aus dem herbstgrauen Berlin in eine sommerliche Welt der Helligkeit und Wärme getragen hatte. Glitzernde Sekunden. Es roch nach Treibstoff und dem nahen Meer. Die immense blaue Oberfläche des Atlantiks: Über dem Wasser (so hatte sie gehört) war die Luft am saubersten. Sie alle waren glücklich und aufgekratzt: die Kinder, die für das
Wunder
des Klimawechsels noch gar keinen rechten Sinn hatten, weil für sie das Magische noch natürlicher Bestandteil der Wirklichkeit war; und Oliver, den die Wärme bestach, so daß er bereit war, dem ziemlich mittelmäßigen Hotel in der folgenden Woche eine Menge nachzusehen. Sieben Tage, in denen sie sich drei- oder viermal geliebt hatten. Es erschien ihr viel. Wie häufig liebten sich Ehepaare? Sie hatten einander mit jener ein wenig abgenutzten Intensität begehrt und beglückt, die sich nach Jahren des körperlichen Miteinanders wohl einstellt. Auch das war nichts Schlechtes. Man konnte nie ganz sicher sein, ob sich nicht irgendwann die Tür öffnen würde und ein schlaftrunkenes Wesen mit der Bitte um ein Glas Wasser hereinträte. Und so hatte es seinen Vorteil, den geraden Weg zum Ziel nehmen zu können.
Do schaltete den Staubsauger ab, noch immer wirbelten Partikel im Schein der Leselampe umher. Es kam ihr sogar vor, als seien es in den vergangenen Minuten nicht weniger |148| geworden, sondern mehr. Sie entschied, daß die Bettwäsche zu wechseln war, und zog die Decken ab. Die Tätigkeit drohte, die Welle der Depression in ihr wieder ansteigen zu lassen, und sie setzte sich auf das kalte Bett.
Oliver untreu? – Do dachte darüber nach. Helma hatte ihre Beobachtungen in der üblichen Weise dramatisiert und ausgeschmückt, aber den Kern des Ganzen hatte sie nicht erfunden. Das war nicht ihre Art. Wenn es stimmte, daß Oliver gestern mit Kopfschmerzen aufgewacht war, warum hatte er ihr dann nichts davon gesagt? Warum hatte er beinahe vergnügt am Frühstückstisch gesessen und wissen wollen, was sie von der Idee halte, die alte kränkelnde Blaufichte im hinteren Teil des Gartens durch einen Mammutbaum zu ersetzen? Vico Müller, ein alter Schulfreund, der ein paar Jahre lang dem festen Entschluß gefolgt
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