Schroedingers Schlafzimmer
fand ihn weder im Garten noch im Haus. Zunächst machte sie sich Sorgen um ihn, weil sie wußte, daß er betrunken war. Dann kam ihr ein anderer Gedanke: Vielleicht hatte er die Party verlassen, um sich zu seiner Geliebten zu stehlen.
Das einzig Gewisse, was Do über Olivers Geliebte wußte, war, daß sie sie nicht kannte – zumindest hatte Oliver das behauptet. Und wenn das der Wahrheit entsprach, konnte es keine ihrer Freundinnen im Garten sein. Gerade das beunruhigte sie. Wenn Olivers Geliebte nämlich
nicht hier
war, konnte er jetzt
bei ihr
sein, in ihren Armen. Und da er nicht den Wagen genommen hatte (wozu er wohl auch nicht in der Lage gewesen wäre), wohnte sie |252| also in der Nachbarschaft – das war das zweite Konkrete, was Do über sie herausfand.
Sie konnte nichts tun. Oliver war nicht der Mensch, der es auf einen Skandal ankommen ließ. Irgendwann würde er wieder auftauchen und sich unter die Gäste mischen, als sei er nicht fortgewesen. Partys erzeugten Anonymität, eine Sphäre, in der man sich entmaterialisieren konnte. Do dachte an den schwarzen Kasten, den Schrödingers Großvater vor hundert Jahren gebaut hatte, um zu beweisen, daß nichts von dem, was geschah,
wirklich
stattfand. Sie glaubte, den Gedanken in dem Moment zu verstehen, da sie in den Garten zurückkehrte: Niemand hatte sie vermißt.
Irgendwann kam Ursel auf sie zu geeilt und verkündete dramatisch: »Es ist etwas Furchtbares geschehen!«
Schrödinger stand neben ihr und sagte gelassen: »Ich muß leider gehen. Diese wunderbare ältere Dame, die sich um meinen Haushalt kümmert, hat mich gerade angerufen. Sie hat einen Schatten um mein Haus schleichen sehen. Ich mache mir keine Sorgen. Es liegt in der Natur von Achtzigjährigen, nachts Schatten zu sehen.«
»Er hat doch für sein Kätzchen die
Hintertür offengelassen
!«, schrie Ursel hysterisch.
»Ich spaziere da ein Viertelstündchen hin, überzeuge mich, daß alles in Butter ist, und komme anschließend zurück. Wie sieht’s aus, meinen Sie, daß hier in einer Dreiviertelstunde noch die Puppen tanzen?«
»Ich fahre Sie«, sagte Do. »Dann sind wir in zehn Minuten wieder da.«
Er schüttelte den Kopf. »Das ist Ihr Fest.«
|253| Ursel sagte: »Dori-Liebes, bleib du hier.
Ich
werde ihn fahren.«
»Auf keinen Fall!«, sagte Do und dachte: Das würde dir so passen.
»Was ist mit Oliver?
Er
sollte fahren.«
»Oliver hat sich hingelegt«, sagte Do. »Es geht ihm nicht gut. Seine Migräne.«
»Er leidet unter Migräne? Das wußte ich gar nicht.«
»Seit neuestem. – Mama, sei so lieb und bitte Helmas Mann ein paar Weinflaschen zu entkorken.«
Als Do mit Schrödinger im Wagen saß, schimmerte die Straße, und der Sternenhimmel kam ihr enorm hoch vor. Auf einmal war die Nacht eine Lunge, die sich auf einen Seufzer des Universums hin geweitet hatte. Das Pflaster ließ den großen Wagen leise schaukeln. Schrödinger, neben ihr, schwieg nachdenklich. Über sein Gesicht glitt regelmäßig das weiße Licht der Straßenlaternen – es war wie ein Umblättern und jede Seite zeigte
ihn
.
Do begriff, daß sie allmählich darüber nachdenken mußte, was sie eigentlich wollte. Sie mußte entscheiden, was sie tun würde, wenn er ihre Hand nähme und begänne, sie zu sich hin zu ziehen. Liebte sie diesen großherzigen, ungezwungenen Mann? Fühlte sie sich ihm nah genug, um mit ihm zu schlafen? War sie bereit, Oliver zu betrügen? Und warum betrog Oliver sie? Sie fragte sich, ob von all den männlichen Krisen und Psychosen, die man inzwischen entdeckt hatte – Midlife-crisis, virile Wechseljahre, Adoniskomplex –, eine auf ihn zutraf. Er alterte. Vielleicht suchte er bei jener anderen, mit der er sich traf, nicht |254| Liebe oder Sex, sondern Schutz. Vielleicht ging er in Deckung vor der Zeit. Und vielleicht ging es Schrödinger ebenso, und sie würde nur eines seiner Bollwerke gegen den Tod sein.
Sie sagte: »Oliver liegt übrigens nicht im Bett. Oder vielleicht doch. Ich weiß es nicht so genau. Er hat zuviel getrunken. Aber die schlichte Wahrheit ist, daß er eine Geliebte hat. Ehrlich gesagt, ich weiß fast nichts. Können Sie nicht
sehen
, wo er gerade ist?«
Schrödinger hob bedauernd die Augenbrauen, kommentierte den traurigen Kern ihres Eingeständnisses aber nicht. »Leider sind wir Magier keine Hellseher. Das wäre zuviel des Guten. Vielleicht steckt ein religiöses oder psychologisches Verbot dahinter. Entweder man
macht
etwas oder man
weiß
etwas. Beides geht
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