Schrottreif
setzte noch eins darauf: »Wo waren Sie am Mittwochabend vor zwei Wochen? Ja, richtig, an dem Abend, an dem Hugo Tschudi ermordet wurde.«
Zweifel reagierte erst gar nicht. Schließlich grub sie mit fahrigen Bewegungen in der Jackentasche nach ihrer Agenda. »Ich kann mich nicht daran erinnern«, sagte sie. Dass das kein Alibi war, war ihr vollkommen klar.
3. Teil
Raffaela Zweifel trat auf die Straße hinaus. Inzwischen war es später Vormittag geworden. Es nieselte noch immer. War immer noch kalt. Sie blickte zu FahrGut hinüber. Sah die Inhaberin vor einem Fahrrad knien, ein Kunde stand daneben. Mist, dachte Raffaela. Sie ließ ihren Blick höher wandern. Salomes Wohnung. Es ging der Tante inzwischen besser, aber besonders fit war sie nicht. Lag im Bett. Schlief viel. Mochte weder lesen noch Musik hören. Sie müsse nachdenken, hatte sie erklärt, als Raffaela gestern rasch bei ihr hereingeschaut hatte, aber sie könne sich nicht mehr erinnern, worüber. Hoffentlich ist diese Gehirnerschütterung nicht der Auftakt zu einer Demenz, hatte Raffaela gedacht. Sie hatte sie heute am späten Nachmittag nochmals besuchen wollen. Aber jetzt würde sie bestimmt nicht zu ihr hinaufgehen. Die fürsorgliche Nichte zu spielen, dazu hatte sie im Moment weiß Gott nicht die Energie. Raffaela setzte sich in das Café gegenüber. Es waren viele Leute dort, Paare, die nach dem gemeinsamen Wochenendeinkauf einen Kaffee tranken, alte Leute, denen es allein in der Wohnung zu langweilig war, Hausfrauen, die eine kurze Pause vom Familienleben brauchten. Raffaela fand einen kleinen freien Tisch und bestellte einen Cappuccino. Hier war er so, wie sie ihn mochte: starker Kaffee, wenig Milch, aber dicker Milchschaum und viel Schokoladenpulver obendrauf. Das hatte sie jetzt nötig. Salome durfte sie nicht so sehen. Vielleicht würde sie, obwohl sie halb weggetreten war, merken, dass etwas nicht in Ordnung war. Dass der Karren wieder einmal ziemlich tief im Dreck steckte. Darin war sie früher sehr fix gewesen, die Tante Salome. Ihr konnte man nicht viel vormachen. Und sie konnte ganz schön streng sein. Nicht, dass sie Strafen aussprach, dafür war sie nicht zuständig. Aber sie hatte einen direkten Zugriff auf das Gewissen der kleinen Raffaela. Legte den Finger erbarmungslos auf die empfindliche Stelle ihrer Seele, wo das Wissen um den Unterschied zwischen Recht und Unrecht wohnte. Natürlich war es Unrecht, dass sie im Coop einen Nussgipfel gestohlen hatte. ›Aber die anderen hätten doch auch …‹
›Stopp!‹ Ausreden ließ Tante Salome nicht gelten. ›Für das, was du getan hast, bist du verantwortlich, nicht die anderen.‹ Sie war ganz anders gewesen als die Eltern, die ihrer ungebärdigen Tochter gegenüber zwischen Nachgiebigkeit und Überforderung schwankten, Raffaela einmal hart bestraften, ein anderes Mal dem Einfluss der anderen Kinder oder der Schule die Schuld zuschoben. Tante Salome konnte aber auch unerwartet großzügig sein. Sie hatte ihr ziemlich ins Gewissen geredet, als herauskam, dass die 15-Jährige mit einer Clique am Lochergut herumhing und tüchtig Bier trank. Aber in den Sommerferien hatte sie sie drei Tage nach Paris eingeladen und kein einziges Mal eine Moralpredigt gehalten. Raffaela war hin- und hergerissen. Genoss sie Paris, weil sie Salome gern hatte? Oder hatte sie ihre Großtante gern, weil sie ihr diese Reise bezahlte? Jedenfalls hatte sie Respekt vor ihr. Aber natürlich hatte sie später weitergemacht wie zuvor. Mit 16 Jahren die Lehre geschmissen. Gekifft, Modeschmuck mitlaufen lassen, war erwischt worden, haarscharf an einer Heimeinweisung vorbeigeschrammt. Die Eltern waren hilflos. Da hatte wieder Salome eingegriffen. Bot an, ihr die Handelsschule zu finanzieren. Raffaela, die selbst wusste, dass es so nicht weitergehen konnte, hatte die Ausbildung durchgezogen. Und die Freude ihrer Großtante hatte sie gerührt. Ihr Verhältnis zu ihr blieb zwiespältig. Aber es machte ihr Spaß, Salome zu erklären, wie ein Handy funktionierte, was man im Internet alles finden konnte, wie praktisch E-Mails waren. Das war ein ungefährliches Terrain und es war ein Gebiet, auf dem Raffaela mehr wusste als die alte Dame, ihr etwas beibringen konnte. Aber es war nicht nur das. Irgendwann war Raffaela der entscheidende Gedanke gekommen. Salome war alt. Sie lebte bescheiden. Sie würde Geld hinterlassen. Möglicherweise ihr, der einzigen jungen Verwandten? Sie kümmerte sich ja um sie. Und so ließ sich
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