SchrottT (German Edition)
rauchten. Über ihnen empfahlen mehrsprachige Schriftzüge, die Proletarier aller Länder mögen sich vereinigen. Colin hatte kurzzeitig erwogen, sich des Spruches zu bedienen, um einen neuen Song zu kreieren, aber dann hatte er die Lust verloren. Er war einfach zu müde. Sein Kopf drohte zu zerplatzen. Wäre er doch hohl gewesen wie der Schädel hinter ihm. Der tat ganz sicher nicht weh, obwohl der Gesichtsausdruck von Karl Marx auch anders interpretiert werden konnte.
Blondy strich Colin über die wirren Haare.
»Die Leute in Erfurt hatten ihren Spaß.«
»Spaß?«, murrte Tier. »Ein Drummer hat keinen Spaß. Er arbeitet wie eine Ameise mit einem Vorschlaghammer in jeder Hand.«
James bot ihm seine Pillendose an. »Dann nimm eine von den Grünen.«
»Hast du das gehört, Süße? Substanzen. Er will uns Substanzen verabreichen. Die unser Hirn schön weich machen.«
»Lol, dabei ist das schon weich.«
»Wir mögen hartes Denken und harte Trommeln, nicht wahr, Süße?« Tier versuchte, Karl Marx zu erklimmen.
James schüttelte den Kopf und öffnete seinen Gitarrenkoffer, den er nie aus den Augen ließ. Er verstaute die Pillendose in einer dafür vorgesehenen Aussparung und fing an, der Fender an den Saiten zu zupfen. Ohne Verstärker klang das so müde, wie Colin sich fühlte. Das Erfurter Publikum hatte kaum auf seine Freiheitshymne reagiert. Ja, die Leute hatten mitgesungen, gejohlt, die Hände nach oben gereckt, Daumen und kleinen Finger gespreizt. Aber etwas hatte gefehlt. Wie der Orgasmus bei halbherzigem Vögeln: ein Erguss ohne Explosion. Hatte das Publikum gespürt, dass mit der Band etwas nicht stimmte? Und wenn ja: Was genau stimmte nicht? Genau das fragte er Blondy.
»Glaubst du wirklich, dass ich als Außenstehende so genau weiß, was in euch vorgeht?«, lautete ihre Entgegnung.
Colin überlegte kurz. »Ja. Du kennst uns schon ziemlich gut. Mich zumindest.«
»Quatsch!«, versetzte Blondy. »Ich weiß, wie kurz dein Schwanz ist, aber nicht, was für Noten du in der Schule hattest. Oder warum du asiatische Augen hast. Oder warum du Sänger einer Crap-Metal-Band geworden bist.«
Erstaunt sah Colin Blondy von der Seite an. Warum hatte er das Gefühl, diese Frau zu kennen? Sie hatte recht, wenngleich sein Schwanz das nie zugegeben hätte. In Wirklichkeit kannten sie einander kaum. Eigentlich gar nicht. »Kann ich dir die Fragen nach und nach beantworten?«
»Du solltest bloß irgendwann mal anfangen«, meinte Blondy. »Ich habe da nämlich eine revolutionäre Theorie.«
»Marx hat schon ganz andere inspiriert mit dem, was er geschrieben hat.«
»Obwohl er es ganz anders gemeint hat, als die glauben wollten«, sagte Blondy. »Meine Theorie bezieht sich auf dich.«
»Bitte sag mir, dass sie nichts mit bestimmten Körperteilen zu tun hat.«
Blondy boxte Colin in die Weichteile. »Meine Theorie lautet: Du hast dir die meisten meiner Fragen auch schon gestellt, aber du wagst es nicht, sie zu beantworten.«
In diesem Moment schlug eine Glocke. Sechs Mal. Colin sah sich um, entdeckte aber keinen Kirchturm. Allerdings stellte er fest, dass die Kerle im Trenchcoat ihre Zigaretten austraten, Hüte aufsetzten und sich in Bewegung setzten. In Richtung der Band. Als hätten sie darauf gewartet, dass es sechs Uhr wurde. Schichtbeginn?
Colins Hoffnung, dass die Männer nur auf die Straßenbahn gewartet hatten, erfüllte sich nicht. Sie kamen direkt auf ihn und die anderen zu. Bauten sich vor ihnen auf, die Hände in den Manteltaschen. Der etwas größere der beiden Männer schob sich einen Kaugummi in den Mund. Der andere putzte sich die Nase mit einem Papiertaschentuch und murmelte etwas.
»Wie bitte?«, machte Colin.
»Haben Sie was an den Ohren?«, fragte der Kaugummikauer. »Allgemeine Personenkontrolle. Ihre Papiere.«
»Das habe ich wirklich nicht verstanden«, sagte Colin. Blondy hatte schon ihren Ausweis gezückt, Colin tat es ihr gleich.
Der kleine Mantelträger nahm die Karte entgegen. Aus der Innentasche zog er ein Smartphone – ein älteres Modell – und klemmte den Ausweis darunter. Offensichtlich war er mit dem Ergebnis nicht zufrieden. »Kein Chip, hm?«
Colin schüttelte den Kopf. »Nein, ich hab noch einen von den alten«, sagte er.
»Schade«, gab der Mann zurück. »Dann muss ich selbst lesen, was draufsteht.« Es klang wie eine unzumutbare Anstrengung, für die er eine Zulage bekommen müsste.
»Colin Weinland«, las er langsam. »Geboren am 12. März 2007 in
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