SchrottT (German Edition)
Hölle
Colin steht in einem Aufzug hinunter in die Hölle. Vermutlich haben die Bauarbeiter der Unterwelt schlechte Arbeit geleistet, denn der Schacht ist ungleichmäßig angelegt, sodass die Fahrstuhlkabine stark hin und her wackelt. Überraschenderweise verfügt der Fahrstuhl über ein Martinshorn. Sollen damit andere, unwichtigere Fahrstuhlkabinen aus dem Weg gescheucht werden?
Colin findet es schade, dass sein Leben offenbar beendet ist. Er fragt sich, ob er eine Spur hinterlassen hat. Genügt ein Lied, genügen ein paar Konzerte? Wenn du nicht mehr da bist, bleibt nur die Erinnerung bestehen. Deine eigene – na gut, nur falls es ein Leben nach dem Tod gibt – und jene der anderen Leute. Tja, aber du selbst bist nun einmal nicht mehr da; was also hast du zurückgelassen in jener Welt der Lebenden? Von Bestand sind eigentlich nur Bücher, Filme oder Musik. Oder Kinder. Von all dem hat Colin nur eines produziert: Musik. Wird jemand in einigen Jahren einmal »Früher we were free« im Radio spielen und Colins Namen dabei erwähnen? Vielleicht sogar von seinem Leben erzählen? Wie es zu Ende ging? Durch Folter, ohne Beine?
Etwas stimmt nicht an diesem Gedanken, aber Colin kommt nicht drauf.
Hinterlässt er etwas im kollektiven Bewusstsein der Menschheit? Hat er etwas von bleibendem Wert im Kulturschatz der Welt geschaffen? Oder ist es so, als hätte er nie gelebt? Was für eine Verschwendung! Verschwendung von Energie, Nahrung, Luft, Wasser, Samen und Ei!
Colin will sein Leben nicht verschwendet wissen. Es genügt ihm nicht, dass seine wenigen Freunde ihn in Erinnerung behalten. Denn auch die sterben irgendwann. Nein. Nur wer vergessen wird, ist wirklich tot. Wer ein Werk von Bedeutung geschaffen hat, ist unsterblich. Seine Stimme erklingt durch seine zu Lebzeiten verfassten Worte weiter. Solange es Menschen gibt.
Der Aufzug biegt um eine Kurve, in diesem Moment bemerkt Colin den Fehler. Er steht nicht in einer Aufzugkabine, denn er hat bekanntlich keine Beine mehr. Er kann also gar nicht stehen. Er muss liegen.
Er liegt in einer Aufzugkabine, die … nein. Falsch. Er liegt … Er liegt in einem Krankenwagen, der mit Höchstgeschwindigkeit und Martinshorn durch eine nächtliche Stadt kurvt. Vermutlich geht es um Leben und Tod.
Colin fragt sich, wer der Kranke ist, der auf der Schwelle zum Nirwana steht und sich am Türpfosten festhält, in der Hoffnung, nicht vornüberzukippen. Und wehe, die Tür fällt hinter ihm ins Schloss! Er hat natürlich mal wieder keinen Schlüssel dabei.
Der Wagen bremst scharf. Colin würde die Augen öffnen, wenn er könnte, denn er würde gerne sehen, wie der Kranke eingeladen wird. Dann zieht etwas an seiner Unterlage, Plastik und Aluminium krachen, Räder rollen. Licht auf der anderen Seite der Lider. Stimmen.
Diskutierende Personen.
»Wie lange …?«
»Als wir gerufen wurden …«
»Delirium? Lebensmittelvergiftung? … Medikamentenmissbrauch?«
»Hier ist ein Dokument, das …«
»Geben Sie her. Sauerstoff!«
Anscheinend reden diese Leute über Colin. Oder über jemanden, der direkt daneben liegt und sich in einem sehr ähnlichen Zustand befindet. Colin glaubt, dass dies ein guter Zeitpunkt ist, sich vorzunehmen, die ganze Sache zu überleben. Sein Fingerabdruck im Leben ist noch nicht fett genug. Er muss noch ein paar Lieder schreiben, mit Texten über … ja, über das Leben und die Gründe dafür.
»Ich kann diesen Patienten nicht behandeln«, sagt der Arzt mit einer Stimme, aus der Fassungslosigkeit leckt. »Er hat auf diesem Formular bestätigt, dass er freiwillig und bei voller Zurechnungsfähigkeit und auf eigenes Risiko diese experimentelle Droge zu sich genommen hat und schlimmstenfalls im Dienste der Wissenschaft daran sterben wird. Er stellt seine Leiche für beliebige Untersuchungen zur Verfügung mit dem Ziel, die Wirkung der Droge für künftige Anwendungen zu verbessern. Hier: Der Unterzeichnende, C. Free.« Die Fassungslosigkeit des Arztes füllt eine Pfütze unter Colins Hintern. Oder er hat sich eingenässt, und der Urin ist inzwischen abgekühlt.
»Herr Doktor, laut biometrischem Scan heißt der Patient Colin Weinland, geboren 12.3.2007 in Heidelberg.«
Der Arzt braucht zwei Sekunden, um eine Entscheidung zu treffen. »Die Unterschrift ist falsch, das Dokument bedeutungslos. Schwester!«
Colin findet es schade, dass er das Treiben in der Notaufnahme nicht weiter beobachten kann, denn Zweieinhalb lenkt ihn ab. Er winkt ihm freundlich zu –
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