SchrottT (German Edition)
Dunkelheit, in der noch schlimmere Dinge stattfinden mochten als jene, die gerade sichtbar waren.
Bis der Bus das schwer bewachte Tor des Bürokomplexes Phoenix West erreichte, hatte Colin die Drohne zusammengebaut und nebenbei einen neuen Songtext notiert. Er war sich bloß nicht sicher, ob es eine gute Idee war, ihn in der Ruhrstadt zum Besten zu geben.
Colin schwankte zwischen den Optionen, den Text zu entschärfen oder ihn für eine spätere Show aufzuheben, als der Bus durch das schwer bewachte Tor in das Habitat rollte.
Wie durch einen Scheinwerfer über einem OP-Tisch war das Areal ausgeleuchtet und suggerierte eine irgendwie unpassende klinische Sauberkeit: Die eiternde Wunde war ausgeleuchtet und der Rest des Körpers war gesund? Genau umgekehrt wäre es richtig gewesen.
Das teuer gemusterte Pflaster sah aus, als würde es jeden zweiten Tag gesandstrahlt werden, kurz nachdem die Müllabfuhr Pizzaschachteln, alte PCs und Leichen von erschossenen Eindringlingen beseitigt hatte. Die nigerianischen Sicherheitsleute garantierten nicht nur für Ordnung, sondern auch für Sauberkeit. Das IT-Konsortium, das seine Subunternehmen hier betrieb, verdiente genug Geld. Man leistete sich nicht nur die eigene Polizeiabteilung, sondern auch Wohnungen, Fitnessstudios und ein von bunten Scheinwerfern erhelltes 3D-Kino. Mitten in der Anlage thronte das Phoenix-Hotel, ein achtzig Meter hoher Protzbau, in dem Geschäftsreisende untergebracht wurden, die nach einem Termin in den Büros des Konsortiums nicht mehr durch die Dunkelheit zum Bahnhof, Flughafen oder zu einer größeren Autobahn fahren mochten.
Lediglich Lars-Peter und Spanisch begleiteten Colin in die Lobby des Hotels. Während der Manager lautlos versuchte, Superlative für die Innenausstattung zu buchstabieren, fotografierte der Journalist Colin dabei, wie er über den weichen Teppich zur Rezeption schwebte und dort darauf wartete, sich von einem Uniformierten begrüßen zu lassen, den eine gebürstete Alu-Plakette auf der Brust als »Nummer 12« auswies.
»Guten Abend«, sagte Colin. »Ich bin spät dran fürchte ich, aber ich habe eine Verabredung in Zimmer … äh … 1601.«
»Selbstverständlich«, sagte der Rezeptionist jovial. »Wen darf ich ankündigen?«
»Colin Free.«
»Sehr gerne«, schleimte der Uniformierte und malte unsichtbare Ziffern in die Luft. Anscheinend war er mit dem letzten Stand der Technik ausgestattet: ein Telefon, das seine Gesten verstand und die gewünschte Verbindung direkt mit dem Knopf im Ohr herstellte.
»Guten Abend, hier spricht die Rezeption. Ein Mister Free ist eingetroffen.« Während drahtlose Technik die Antwort ins Ohr des Rezeptionisten Nummer 12 leitete, sahen seine Augen durch Colin hindurch. Dann nickte er knapp. »Sehr gerne. Auf Wiederhören!«
Es folgte eine Geste, die die Luft über dem Tresen in eine untere und eine obere Hälfte zerschnitt.
»Die Dame erwartet Sie, Mister Free. Ich empfehle Ihnen Aufzug A, dort drüben. 16. Etage.«
»Okay«, sagte Colin und machte sich auf den Weg. Er hoffte, Nummer 12 nicht tödlich zu beleidigen, indem er ihm kein Trinkgeld gab. Spanisch blieb Colin auf den Fersen, bis sich die spiegelnden Aufzugtüren lautlos in der Mitte teilten.
»Ich gehe allein da hoch«, sagte Colin.
»Wie schade«, grinste Spanisch.
Colin trat in die Fahrstuhlkabine. »Der Laden ist zu krass.« Dann drückte er den silbernen Knopf mit der 16. Blaues Bestätigungslicht glomm sanft auf, als die Türen sich schlossen. Die irritierte Miene des Journalisten verschwand und wurde durch unendlich viele Colins ersetzt, denn die gesamte Kabine war von innen verspiegelt. Ruckfrei setzte sich der Lift in Bewegung. Die aufsteigenden Nummern der Stockwerke leuchteten lebensgroß in allen Wänden auf. Eine Demonstration technischer Überlegenheit ohne Substanz: Hübsche Lichteffekte verhinderten keine Hungersnöte und heilten keine Krankheit. Obwohl einige Leute Letzteres tatsächlich glauben mochten.
Das Öffnen der Türen wurde von einem Gong untermalt, der vermutlich von himmlischen Heerscharen mit goldenen Instrumenten in einem Aufnahmestudio auf Venus eingespielt worden war. Oder die Heerscharen saßen oben auf der Fahrstuhlkabine und ließen sich zwischen den Stockwerken von nackten Sklavinnen mit Honig gesüßte Erdbeeren zwischen die Lippen schieben.
Als Colin den Fahrstuhl verließ, kapierte er, dass er im Begriff war, das Penthouse des teuersten Hotels des Ruhrgebiets zu betreten. Das hatte mit
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