SchrottT (German Edition)
würde, um ihm selbigen zu rauben.
Colin versucht, die Augen zu öffnen. Diesmal aber wirklich, wirklich, wirklich! In echt, nicht im Traum. Es klappt nicht. Seine Augen sind auf. Blondy beugt sich über ihn.
»Du lebst«, flüstert sie, und ihre Züge tragen eine Botschaft, die nicht weiter von Zweieinhalbs Flachheit entfernt sein könnte. Denn Gefühle existieren in der Tiefe, nicht in Höhe oder Breite. Ohne Innendrin kann es sie nicht geben, und zwei Dimensionen umschließen keinen Rauminhalt.
»Llllfff«, bringt Colin hervor. Dann erinnert er sich seiner Zunge. »Leidlich«, sagt er. »Muss … nächste Show …«
Blondy schüttelt den Kopf. Dabei wischt sie sich irgendwas aus dem Augenwinkel. »Wir reden ein andermal über die nächste Show. Erst mal müssen wir weg. Jemand ist hinter uns her. Denen gefällt es nicht, dass du lebst.«
»Die haben ja … keine Ahnung …«, keucht Colin, »wie scheiße sich das anfühlt.«
Dortmund, 9. Juli 2026
Die Slums der Ruhrstadt erstreckten sich bis auf die Standspur der B 54. Hier wohnten halblegale Einwanderer aus Afrika und dem Nahen Osten, Bürgerkriegs-Flüchtlinge aus Südeuropa sowie unzählige deutsche Rentner, die auf eines der Angebote der Nigeria-Connection hereingefallen waren und auf die Auszahlung der versprochenen Millionen warteten. Die Zahlungen verzögerten sich allerdings regelmäßig, sodass den Leuten nichts anderes übrig geblieben war, als ihre Autos in Campingwagen umzufunktionieren. Parkplätze in der Innenstadt waren zu teuer, also standen die Wagen an den Rändern der Ausfallstraßen. Wohlhabendere Anwohner zahlten dem privaten Sicherheitsdienst erkleckliche Summen, damit niemand in ihren Nebenstraßen parkte. Freilich gab es am Rand der Hauptstraßen weder Waschgelegenheiten noch Toiletten, sodass man selbst im Sommer keinesfalls die Scheiben des eigenen Autos öffnete. Die restliche Infrastruktur – Markt, Arzt, Bordell – wucherte an den Abhängen seitlich der Straße oder auch mitten auf der Fahrbahn.
Als der Bus eine Art Notoperation ohne Narkose umkurvte, richtete Colin seinen Blick lieber nach innen. Blondy saß ein paar Reihen weiter vorn und bearbeitete ihre Fingernägel mit einer Feile, als wolle sie diese für Colins Misstrauen bestrafen.
James lag immer noch quer auf der Rückbank. Tier trug riesige Kopfhörer und sah sich einen Film auf seinem Pad an. Spanisch saß auf dem Sitz rechts vorn und half Lars-Peter, im Dämmerlicht des grauen Sommerabends durch die Slums zu rangieren.
Um nicht nach draußen sehen zu müssen, wühlte Colin lustlos in seiner Sporttasche herum. Das Chaos aus sauberer und schmutziger Wäsche besaß einen mittleren Hygienewert, der einigermaßen mit den Slums der Ruhrstadt harmonierte. Energisch kramte Colin weiter, bis er auf eine Pappschachtel traf. Ein Blitz durchfuhr ihn.
Papas Geschenk!
Er schleppte es seit Heidelberg mit sich herum, als er es aus der Packstation geholt hatte. Nie hatte er es ausgepackt, und da Länglich beim denkwürdigen Gespräch auf Hohensyburg nicht danach gefragt hatte, war es vermutlich gar nichts Besonderes. Nur ein Bestechungsversuch, der offenbar gescheitert war. Vielleicht enthielt die Schachtel einen Orgonstrahler oder ein T-Shirt mit dem Logo der Cosa Nostra Deutschland GmbH.
Colin war nicht neugierig. Aber er fürchtete sich vor dem Panorama hinter den Busfenstern mehr als vor dem Inhalt der Schachtel. Also öffnete er sie.
Zum Vorschein kam ein Plastikbausatz für einen Miniatur-Hubschrauber. Natürlich mit Kamera und Fernbedienung übers Handy. Eine Sicherheitsdrohne. Nicht so beständig gegen Wetter und Vandalen wie die echten, aber weit mehr als ein nutzloses Spielzeug. Colin schnaubte. Papa Dennis war kein Amateur, wenn es darum ging, Leute zu beeinflussen. Und er wusste, dass Techno-Spielzeug in der Gunst vieler jugendlicher Erwachsenen noch vor Mädchen und Popmusik kam.
Einen Moment überlegte Colin, ob er die Drohne dem nächstbesten Kind im Vorstadtslum schenken sollte. Vor seinem geistigen Auge sah er, wie ein Junge stolz das Spielzeug vorführte und am folgenden Abend zwischen zwei festgerosteten Karosserien einem Raubmord zum Opfer fiel, bevor er den Helikopter auf dem Schwarzmarkt gegen Klebstoff, Kaffee oder – bestenfalls – Antibiotika eintauschen konnte.
Colin ertappte sich dabei, wie er schon wieder aus dem Fenster starrte. Das Licht der wenigen intakten Straßenlaternen, Kerzen und Feuerstellen ließ viel Raum für
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