SchrottT (German Edition)
sagt Colin. »Hast du deine dritte Dimension in einem sonderbaren Spiel verloren, dessen Regeln du nicht kanntest? Bei dem dich niemand gefragt hat, ob du überhaupt mitmachen willst?«
»Meine dritte Dimension geht dich rein gar nichts an«, versetzt Zweieinhalb.
Colin schielt um die Ecke. »Von hinten bist du einfach nur weiß«, stellt er fest.
»Man nennt das: unbedruckt«, korrigiert Zweieinhalb.
»Wenn ich ganz genau hinschaue …« Colin beugt sich vor, seine Nase berührt fast die seines Gegenübers.
»Ich verbitte mir solche unangemessenen Intimitäten«, beschwert sich Zweieinhalb.
»Du bestehst aus ganz vielen klitzekleinen Pünktchen.«
»Und du? Aus Schlamm und ein paar Blitzen? Ist das irgendwie besser, eine Art Geburtsrecht als Fleisch und Blut – und vor allem: Gibt es dir das Sonderrecht, dich über die Spielregeln zu stellen?«
Colin denkt zurück an seine Zelle, die ihn beinahe den Verstand gekostet hat. Aber ein paar Erinnerungsfetzen sind noch da. Er weiß jetzt, was er gesehen, aber nicht wahrgenommen hat. Hing da nicht einfach bloß ein Poster an der Wand? Ein nicht mehr ganz aktuelles Wahlplakat, das den Bundeskanzler zeigt sowie den Slogan: »Nur noch ZWEIEINHALB Prozent Arbeitslose!«?
Colin streckt die Brust raus. »Ich spiele nicht gegen Druck-Erzeugnisse«, sagt er und verschränkt die Arme vor der Brust. »Egal wie viele Arbeitsplätze du geschaffen hast.«
»Wovon redest du?«, fragt das zweidimensionale Abbild des Kanzlers. »Gar nichts habe ich gemacht, bloß eine Kommission eingesetzt, die die Statistiken schöner aussehen lässt. Um den Arbeitsmarkt kümmern sich jetzt die Länder, damit ich mehr Zeit für die Weltpolitik habe.«
»Weltpolitik, aha«, sagt Colin und winkt den Gliedmaßen auf dem Schachbrett. Manche winken zurück. »Meinst du damit vielleicht so was hier?«
»Aber nein«, sagt Zweieinhalb. »Das hier ist ja nicht real. Und in der Politik ist es von größter Bedeutung, den Eindruck von Realitätsferne zu vermeiden. Außerdem hat man ja Berater, die echte Experten auf ihren Gebieten sind. Deshalb werben wir als Bundesregierung in den anderen Ländern Europas und der Welt dafür, unseren Privat-Föderalismus im Hinblick auf die Sicherheitspolitik zu übernehmen.«
»Jetzt klingst du endlich nicht mehr wie ein Plakat, das in der Zelle eines Geheimgefängnisses hängt, das es in einer Demokratie gar nicht geben dürfte«, sagt Colin.
»Unser Gespräch langweilt mich«, entgegnet Zweieinhalb. »Außerdem habe ich wichtigere Dinge zu tun, als Opfer ihrer eigenen Profilierungssucht ins Jenseits zu geleiten. In Brüssel stehen Gespräche über eine gemeinsame europäische Sicherheitsrichtlinie auf dem Programm. Würdest du die Freundlichkeit besitzen und endlich sterben, damit ich mich um meine wirklich wichtigen Aufgaben kümmern kann, für die ich gewählt wurde?«
»Eine Frage dazu«, sagt Colin. »Wurdest du wirklich gewählt oder war das auch ein manipulativer Trick wie dieses Schachspiel?«
»Pah!«, macht Zweieinhalb. »Du unterschätzt die Dummheit der Menschen. Es handelt sich dabei um eine unerschöpfliche Ressource, die man nach Belieben ausbeuten kann. Im Gegensatz zum Erdöl, zum Beispiel. Das ist irgendwann verbraucht und wächst nicht mehr nach.«
Colin holt tief Luft, dann tritt er mitten auf das Schachbrett. »Also gut«, sagt er. »Ich will mal nicht so sein und biete dir ein Unentschieden an. Und meine Hand. Aber nur zum Einschlagen.« Er streckt die Rechte aus.
»Du hast es nicht begriffen«, schüttelt Zweieinhalb den Kopf. »Der Verlierer dieses Spiels stand von vornherein fest.«
Allmählich gehen Colin die Ideen aus. Er muss Zeit gewinnen. Viel mehr Zeit. Am besten ein paar Jahrzehnte. Oder Äonen, damit neues Erdöl entstehen kann. Aber der Kanzler hat einen Termin in Brüssel. Colin spürt: Irgendetwas stimmt nicht.
Als er sich umschaut und gleichzeitig nach seinem Gesicht tastet, kommt er langsam drauf, was das ist.
Seine Augen sind geschlossen, und trotzdem sieht er Dinge.
Dinge, die ihm sein Leben nehmen wollen. Seinen Verstand. Seine Würde. Seine Chance, ein paar Angelegenheiten in Ordnung zu bringen.
Es gibt nur eine Schlussfolgerung: Er muss aufwachen. Dringend.
Als Colin die Augen öffnet, hat er noch alle seine Gliedmaßen. Er spürt sie genau, denn sie tun alle weh. Geister sieht er allerdings immer noch. Einer ähnelt Blondy, aber die hat er dermaßen vergrault, dass sie ihn bestenfalls im Schlaf aufsuchen
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