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Schubumkehr

Schubumkehr

Titel: Schubumkehr Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Menasse
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dieser ihm wie einem Erwachsenen die Hand gegeben und ihn angeschaut hatte, mit glasigen Augen unter dem seltsamen schwarzen Hut: Dein Vater hat doch nicht überlebt. Jede Bewegung, jedes Geräusch war wie das Herumsurren einer Fliege, über die plötzlich ein Glas gestülpt wurde. Das rätselhafte Gefühl, diese Empfindung, wie konnte man sie nennen? Sie war da, irgendwie hineingemischt in das Entsetzen, das Schweigen und das Starr-Sein, so deutlich, daß er schon damals, als Kind, wußte, daß es als einziges bleiben werde – in der Erinnerung. Als ein unaufgedeckter Skandal. War der Tag des Begräbnisses grau gewesen, oder hatte die Sonne geschienen? Hatte er geweint oder wie betäubt tränenlos vor sich hingestarrt? Wohin sind sie nach dem Begräbnis gegangen, mit wem? Alles im Dunklen. Der Tag ist nicht sonnig gewesen, nicht grau, er war dunkel. Er hatte gestarrt ins Dunkle. Der dunkle Satz von Onkel Ossi, unter der schwarzen Hutkrempe, ein scharf umrissenes Dunkel im Dunkel. Dann sind sie gegangen ins Dunkel. Aber in diesem Dunkel war ein Glimmen, etwas – Schönes, etwas, das im Dunklen bleiben wollte und Schatten warf zurück und nach vor. Es machte ihn anders als vorher, und anders als die anderen. Er hatte seinen Vater nicht umbringen müssen, der Wunsch alleine hatte es getan. So mußte es ihm scheinen, aber ganz versteckt, ein ganz gedämpftes Scheinen im Dunklen. Der Vater war tot – und die Zeit darauf schlief er im Bett seiner Mutter. Er genoß es. Er durfte nicht zeigen, daß er es genoß. Sie schliefen aneinandergepreßt in schweigender starrer Trauer. Die Trauer würde vergehen. Wie lange das so ging. Und dann auf einmal das Internat. Jetzt bist du ein Schulbub. Ich bin so stolz auf meinen Schulbuben. Der Stolz der Mutter – ohne Mutter. Statt des gemeinsamen Schlafzimmers mit ihr – nun ein Schlafsaal mit dreißig Jungen. Er hatte gewußt, daß er das nur in einem Bett in einer Ecke des Saals überleben würde. Wenn überhaupt. Aber wenigstens dies: an zwei Seiten des Betts keinen Nachbarn haben. Es war das einzige, was hier zu hoffen war, das einzige, wofür er in diesem Internat gekämpft hatte. Ein Eckbett. Wenn er verprügelt wurde, hielt er still. Er wehrte sich nicht. Wozu? Er wußte, man konnte ihn nicht umbringen, nicht durch Schläge. Irgendwann würde man von ihm ablassen. Sinnlos, durch Gegenwehr die Prozedur zu verlängern. Die ewigen Rituale der Tätlichkeiten. Ein nasses Handtuch mit Knoten. Es tat so weh, aber es blieben keine Spuren. Faustschläge nur in Bauch und Unterleib, nur in die Weichteile, denn die Erzieher sahen den Kindern nur ins Gesicht. Hatte einer eine blutende Nase, eine geplatzte Lippe oder Augenbraue, man konnte sicher sein, daß dieser der Angreifer gewesen war, denn ins Gesicht schlug man nur in Notwehr. Für ihn gab es keine Notwehr. Keine Notwehr gegen Äußerlichkeiten, die, ob sie ihn trafen oder nicht, ob er sich auflehnte oder nicht, nichts am Wesentlichen änderten: Er wurde umerzogen, so empfand er es, umerzogen wegen einer nie aufgedeckten Schuld. Es gab nur das Warten. Daß die Zeit verging. Daß die sogenannte Nachtruhe kam. Wenn er Pech hatte: noch ein Aufschub. Die Schilling-Strafe. Wie wurde sie genannt? Sie hieß nicht Schilling-Strafe, sie hatte einen eigenen Namen, er hatte ihn vergessen, es war ihm damals schon egal. Man mußte nichts großartig angestellt haben, um diese Strafe zu bekommen, der unmittelbar vor Dienstende schon völlig genervte Erzieher griff sich irgendeinen Zögling heraus, es genügte, wenn man blöd schaute. Man mußte mit jedem Finger eine Ein-Schilling-Münze gegen die Wand pressen und eine elfte Münze mit der Nase. Zehn Minuten lang. Es war augenblicklich still im Schlafsaal, schweigend machten sich alle zum Schlafengehen bereit. Wehe, wenn eine Münze fiel. Ihm fiel nie eine Münze hinunter, das konnte er perfekt: selbstvergessen dastehen und die Münzen gegen die Wand pressen. Er hatte nie das Gefühl gehabt, daß er das war, der da stand, er war schon woanders, im Bett, im Eck des Schlafsaals, und in diesem Bett war er im Bett seiner Mutter, und im Bett seiner Mutter war er nicht mit seiner Mutter, sondern mit einem Buch und einer Taschenlampe. Wie viele Nachtruhen waren es bis zum Ende der Schulzeit? Am Ende war er sehr belesen. Das Licht wurde abgedreht, Dunkel. Er starrte im Dunkeln die Wand neben seinem Bett an, horchte angespannt, bis es ganz ruhig geworden war, dann zog er die Decke über den Kopf, schaltete

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