Schütze meine Seele: Soul Screamers 4 (German Edition)
Klasse, als sie ein altes Video zur Dokumentation über die Geschichte der französischen Architektur in den Rekorder steckte. Ich musste all meine Willenskraft aufwenden, um nicht einzuschlafen, während die monotone Stimme des Erzählers die gähnend langweiligen erklärenden Kommentare zum Film herunterleierte.
Der Erzähler redet unermüdlich weiter über „Art Nouveau“, deren Besonderheiten und Schönheit und bla, bla, bla. Ich interessiere mich nicht dafür. Alles, woran ich interessiert bin, ist, wie ich wach bleiben und einen weiteren Schultag überleben kann.
Mrs Brown steht am vorderen Ende des Klassenzimmers, und für einen Augenblick glaube ich, sie hätte meine Gedanken gelesen. Oder bemerkt, dass ich nicht aufpasse. Doch anstatt mich auf Französisch zu rügen, starrt sie an mir vorbei, mit merkwürdig glasigen, verklärten Augen.
Und dann bricht der Schrei aus mir heraus. Er kommt soschnell und mit solcher Gewalt, dass ich ihn unmöglich unterdrücken kann. Und es fühlt sich an, als würde ich Säure hochwürgen.
Ich schmecke Blut auf meiner Zunge, und alle starren mich an. Doch ich kann nicht hören, was sie mir zurufen, während einige von ihnen sich um mich scharen und andere erschrocken zurückweichen.
Niemand achtet auf Mrs Brown. Niemand außer mir bemerkt, wie sie zusammenbricht, und jetzt begreife ich, was geschieht. Sie ist gerade gestorben, und ihre Seele ruft nach mir, sich an das Leben klammernd, das bereits aus ihr herausströmt.
Ich will ihr helfen, aber ich kann nicht. Ich versuche, den Mund zu schließen, aber der Schrei ist zu stark. Dann greife ich mir an die Kehle. Meine Finger sind voller Blut, als ich sie zurückziehe. Aber ich schreie weiter, und jetzt kann ich Mrs Browns Seele sehen. Sie schwebt über ihrem Körper, ein sich langsam drehendes, durchscheinendes Etwas – nur eine Illusion, die mein Gehirn erschafft, weil es den Anblick einer echten Seele nicht erfassen kann, hat mir Harmony einmal erklärt. Die kannst du nicht sehen, und du würdest es wahrscheinlich auch nicht wollen.
Grauer Nebel steigt um mich herum auf. Mein Herz stolpert und setzt sogar einige Schläge komplett aus. Der Nebel kriecht über den Boden und umhüllt zerschrammte Tischbeine. Dreißig Paar Schuhe verschwinden darin. Ich versuche, ihm auszuweichen, aber er ist überall.
Nein! Ich will nicht springen! NEIN!
Doch der Schrei hat einen eigenen Willen entwickelt. Der Schrei will mich auf die andere Seite schicken. Und der Nebel ist zu dicht, um ihm zu entkommen. Also kneife ich die Augen zusammen und tue so, als ob es nicht wirklich passiert. Es ist nur ein Traum, und wenn ich aufwache …
Ich hielt die Augen fest geschlossen, zu verängstigt, um hinzusehen. Die Tischplatte fühlte sich kalt unter meinen verschränkten Armen an, und ich konnte den Riss in meinem Stuhl fühlen, an dem ich mir mal einen Splitter ins Bein gezogen hatte, als ich nur Shorts trug. Beide Tatsachen hätten mich beruhigen und mir sagen sollen, dass ich noch immer in meiner abgedunkelten Französischklasse saß, mit neunundzwanzig anderen Schülern, die Interesse an französischer Baukunst vortäuschten.
Doch Stille log nicht.
Das Tappen von Courtney Webbers Füßen fehlte, die der Musik aus ihrem iPod lauschte anstatt dem Film und dazu im Takt wippte. Kein Kratzen von Gary Yates Stift in dem Heft, in das er gerade den Rest seiner Geschichtsarbeit kritzelte, die er gestern nicht fertig bekommen hatte.
Mein Herz pochte rasend schnell. Ich setzte mich auf und krallte die Finger in die Seiten meines Tisches, die Lider noch immer fest zusammengekniffen. Ich wollte nichts sehen. Aber den Kopf in den Sand zu stecken, könnte mich das Leben kosten. Also öffnete ich langsam die Augen.
Ein leeres Klassenzimmer. Dreißig leere Tische, unbeschädigt, ohne Kratzer und mit Edding geschriebene Namen, gaben dem Raum eine gespenstische Atmosphäre – die Highschool-Version einer Geisterstadt. Vorn neben der Tür stand ein wuchtiger Tisch, der des Lehrers. Es gab keine Tafel. Über den Bildschirm eines alten Röhrenfernsehers auf einem Rollwagen flimmerte ein noch älterer Film, der von einer Videokassette kam.
Die Unterwelt.
Ich war gesprungen. Während ich schlief.
Unmöglich! Es brauchte die Absicht zu springen, sonst funktionierte es nicht. Und ich hatte ganz sicher nicht das Bedürfnis, einen Abstecher in die Unterwelt zu machen.
Sabine.
Sie war sauer auf mich. Richtig sauer. Und ich konnte es ihr nicht mal verdenken.
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