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Schützenkönig

Schützenkönig

Titel: Schützenkönig Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Katrin Jäger
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mit den Schultern. »Ich weiß nicht, wer Ihre Mutter ist. Aber ich dachte, Sie suchen etwas – und ich wollte behilflich sein.« Er tippte auf das Bild. Dann ging er. Tischdecken holen – für den Leichenschmaus.
    »Ich war gut damals.« Marie Latells Stimme war eine Oktave tiefer gerutscht. Sie klang nach Rauch und Rotwein. »Flink, geschickt. Konnte mir alle Bestellungen merken.« Michael lächelte und reichte ihr ein Toastbrot mit Honig über den Tisch. Marie nahm es, legte es auf den kleinen Teller und zündete sich eine Zigarette an. »War ja auch leicht. Die meisten wollten nur Bier oder kurzlang.«
    »Kurzlang?« Michael pustete in seinen heißen Kaffee.
    »Bier plus Schnaps – also ein langes Bier und einen kurzen Schnaps.«
    Michael goss Milch in den Kaffee.
    »Aber sag mal, Kleiner. Warum bist du so nett zu mir? Ich habe gestern zu viel getrunken, dann lässt du mich hier schlafen und jetzt auch noch Frühstück inklusive. Erinnere ich dich etwa an deine Mutter?«
    Kopfschütteln. »An meine Tante.«
    »Na großartig! Immerhin nicht an deine Oma.«
    »O nein, die war hässlich wie die Nacht. Und die hätte nie ein Bier zapfen können, wäre ihr zu unmoralisch gewesen.«
    Marie lachte, es klang wie ein Husten. »Und mit ’nem verheirateten Dorfbeau hätte sie wohl auch nichts angefangen.«
    »Den hätte sie nie bekommen, so langweilig, wie die war.«
    Langweilig, das war Marie nicht gewesen. Sie war vielleicht launisch, vielleicht unberechenbar – aber niemals langweilig. Nicht so, wie die meisten der Kunden im Gasthof König. Marie hatte sich auf eine kleine Anzeige in der Münsterschen Zeitung gemeldet. »Suchen Aushilfe für die Hauptsaison, gerne nette Studentin – Gasthof König.« Und so wurde aus der Kunststudentin Marie in den Semesterferien die Bedienung Püppi. Irgendwie hatte sie den Spitznamen seit ihrem ersten Dienst weg – und er gefiel ihr. Mit ihrem Decknamen konnte sie eine andere Seite ihres Charakters ausleben. Vielleicht die Seite ohne Sinn und Verstand.
    »The Dark Side of me.« Marie lachte wieder ihr Hustenlachen, und Michael verbrannte sich die Zunge am heißen Kaffee.
    »Warst bestimmt die Schönste im Dorf …«
    »O ja.« Marie blies den Rauch in die Luft. »Det war ick.«
    Und doch hatte er sie nicht angeschaut. Damals. Dabei hat sie sonst niemand aus Westbevern übersehen können. So fröhlich, hübsch und rotmundig, wie sie war. Er trank nur sein Bier, bezahlte, ging und sah dabei immer ein bisschen traurig aus. Marie fand das interessant. Bernhard war anders als die Typen, die ihr in den Po kniffen oder ins Dekolleté starrten. Er sah gut aus, wirkte intelligent – und sie begann, ihr Netz zu spinnen. Eine kurze Berührung hier, ein verschüttetes Bier da, ein Stolperer, ein Bitten um Feuer. Sie ließ nichts aus. Und irgendwann ließ er es zu.
    Marie biss in den Honigtoast. Krümel fielen auf den Teller, Michael schaute aus dem Fenster. »Danke, dass du mir zugehört hast. War deine Tante eigentlich nett?«
    »Ja, war sie. Aber sie hat ein Leben lang daran gearbeitet, es nicht zu sein.«
    »Und deshalb erinnere ich dich an sie? Versuche ich denn, nicht nett zu sein?« Marie schaute ihn an.
    »Nein, bei dir ist es anders. Du versuchst die ganze Zeit, nicht glücklich zu sein.«
    Marie musste lachen. Es klang wieder wie eine mittelschwere Bronchitis, es wurde lauter, und es endete in einem tiefen, traurigen Schluchzen.
    Michael reichte ihr ein Tempotaschentuch. »Fünftes Semester Psychologie.« Er sagte es wie eine Entschuldigung.
    Viktoria starrte auf das Foto. Und Harry blieb verschwunden. Er wollte nichts mehr sagen. Also starrte sie. Die Ähnlichkeit war nicht zu leugnen, egal wie lange sie auch schaute. Die zierliche Frau auf dem Foto sah aus wie ihre Mutter. Aber natürlich konnte sie sich irren, immerhin war das Bild alt. Und wieso hatte Harry abgestritten, dass es ihm um die junge Frau auf dem Bild ging? Was war dort noch zu sehen? Viktoria ging jetzt systematisch vor. Sie stellte sich vor, das Foto bestünde aus lauter kleinen Planquadraten mit Kantenlängen von jeweils einem Zentimeter. Links oben begann sie. Das erste Planquadrat beinhaltete einen Teil des Tapetenmusters. Außer dass die Königs inzwischen offensichtlich ihr Gasthaus neu gestrichen hatten, konnte sie nichts daran finden. Planquadrat zwei war auch Tapete, und so ging es weiter. Ein Stückchen Schrank, ein Teil Bierglas, ein Teil vom Lichtschalter, der Zapfhahn. Blank poliert, dass man

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