Schützenkönig
sich darin spiegeln konnte. Viktoria sah die Kamera des Fotografen, eine schwarze Nikon. Blonde Ponyhaare fielen über das Gehäuse. Und sie sah ein Auge. Ein wasserblaues Auge, das nicht von der Kamera bedeckt wurde. Sie konzentrierte sich auf die Spiegelung, auf das Gesicht, doch es war zu verzerrt, es hatte keinen Zweck. Sie legte das Bild wieder hin, schaute noch einmal. »Wer hat dieses Foto gemacht?« Sie hatte es nur ganz leise geflüstert. Dann hatte sie auf die Rückseite geschaut. Sie las B. L. Und flüsterte wieder zu sich selbst: »B. L. – Bernhard Lütkehaus.«
Harry stand mit den Tischdecken auf dem Arm in der Tür. Er nickte, ganz leicht nur, kaum zu erkennen.
Viktoria wollte noch etwas sagen, etwas fragen. Doch Rosa erschien hinter Harry. »Na, da bist du ja endlich.« Sie griff nach den Decken. »Dann lass uns mal! Wir müssten eigentlich schon längst am Schützenplatz sein.«
»Da wollte ich auch gerade hin.« Viktoria stand unbeholfen auf und ging. Arbeiten, ich werde jetzt arbeiten, dachte sie.
Sie wusste, dass er es wusste. Und er würde sicher einmal ein guter Therapeut werden. Doch sie war keine gute Patientin und wollte es auch nicht sein. Lebensmüde, depressiv – Diagnose gestellt. Die Therapie kann beginnen! Aber nicht mit ihr. Sie war bisher allein damit klargekommen, sie würde weiter damit klarkommen. Vielleicht. Vielleicht auch nicht. Marie wich Michaels verständnisvollem Blick aus. Nein, sie würde ihm nicht von diesem grauenhaften Tag erzählen, an dem sie dachte, jetzt sei der Zeitpunkt gekommen, Schluss zu machen.
Der erste Tag des Jahres war kalt gewesen. Sie hatte ihre Handschuhe gestern bei der Arbeit liegen gelassen. Sie war Kuratorin für das alternative Kreuzberg-Museum, das bis zum 6. Januar geschlossen bleiben würde. Da sie immer erst um 10 Uhr morgens anfangen musste, hatte sie keinen Schlüssel. Die Sekretärin oder ein anderer Kollege hatte immer schon aufgeschlossen, wenn sie zur Arbeit kam. Die Handschuhe waren also eingesperrt. Doch sechs Tage kalte Finger? Nein, danke. Marie Latell stieg an der Haltestelle Bahnhof Friedrichstraße aus und ging in eine dieser geschmacklosen Boutiquen, die jeden Tag rund um die Uhr geöffnet haben und die sie wegen der Touristenmassen immer mied. Gleich im Eingangsbereich entdeckte sie neben dem Stand mit Berliner Bären in allen Fellvarianten ein paar knallrote, günstige Handschuhe. Sie war gerade auf dem Weg zur Kasse, als das Pech sie verfolgte – er hatte sie entdeckt.
»Ach, sieh mal einer an. Die Püppi!«
Marie stoppte. Seit dreißig Jahren hatte sie diesen Namen nicht mehr gehört. Sie drehte sich um und sah Klaus Bühlbecker. Sie erkannte ihn sofort, obwohl er gut und gerne zwanzig Kilo zugenommen und fünfzigtausend Haare verloren hatte. Das fliehende Kinn verriet ihn – sie und Bernhard hatten öfter darüber Witze gemacht. Sie hatte den aufstrebenden Jungunternehmer nie gemocht. Matt sagte Marie: »Klaus – so eine Überraschung! Bist du beruflich hier oder hast du am Brandenburger Tor Silvester gefeiert?«
Er grinste dämlich. »Ne, ne. Feiern tu ich lieber zu Hause. Ich baue in Berlin auch die eine oder andere Brücke.«
Sie nickte und zeigte auf die Handschuhe. »Ich muss eben zahlen.«
Klaus trat auf sie zu, nahm die Handschuhe und ging zielstrebig zur Kasse. »Lass mal!«
Marie war zu überrascht gewesen, um zu protestieren. Also bedankte sie sich brav, als er ihr die Plastiktüte in die Hand drückte, und räusperte sich. Sie hatte weiche Knie. Dabei wäre sie so gerne weggelaufen. Fliehen vor Klaus’ fliehendem Kinn, doch sie konnte nicht. Wie ein Insekt, das sich totstellt, um seinem Fressfeind nicht zum Fraße zu fallen, hatte sie all ihre Lebensfunktionen heruntergefahren. Klaus merkte davon nichts. Je weniger sie tat, je weniger sie auf seine neugierigen Fragen antwortete, desto gieriger wurde er.
»Komm, Püppi. Wir müssen unser Wiedersehen feiern. Ich lad dich ein auf ein Gläschen Rotwein, so was magst du doch bestimmt, oder?«
Sein Zug nach Münster würde erst in ein paar Stunden abfahren, es würde ihn freuen, mit ihr so lange über alte Zeiten zu plaudern. Seine Hotelbar sei ganz ordentlich, sagte er großspurig. Er wohnte im Westin Grand. »Is ja nicht weit, gleich drüben Unter den Linden.«
Alte Zeiten, diese Worte hallten in Maries Ohren nach wie ein Gong. Und dann trank sie in der Hotelbar französischen Rotwein und er Berliner Pilsener, und er überschüttete sie mit
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