Schützenkönig
Strand traf – demonstrativ ein Buch. Wer nichts sieht, braucht nicht zu grüßen, und wer nicht grüßt, muss keinen dämlichen Small Talk halten. Eine ganz einfache Regel, an die sich Viktoria stets gehalten hatte. Also warum nicht auch jetzt. Bernhard und Marie haben sich vielleicht getroffen. Zufall! Und jetzt war sie selbst hier. Zufall! Sie wollte daran glauben, tat es aber nicht. Also zählte Viktoria: Die Vogelstange war etwa hundertfünfzig Schritte vom Zelt entfernt aufgebaut. Ein dreizehn Meter hoher Stangenbau im Stil des Eiffelturms ragte vor dem kleinen Wäldchen empor, in dem am Tag zuvor das Lagerfeuer gebrannt hatte. Die Metallstreben waren grün gestrichen, ganz oben war ein Fangkasten, davor der klobige Holzadler. Der Kasten sah reichlich zerschossen aus, er hatte offensichtlich schon etliche Jahre als Kugelfang gedient. Der Vogel starrte aus etwa zwanzig Meter Höhe aus gelb gepinselten Augen auf die Schützen herab, seine Flügel waren ausgebreitet. Um elf fiel der erste Schuss. Viktoria hatte einen lauten Knall erwartet, stattdessen kam nur ein leises Plopp, dann ein metallisches Scheppern. Die Kugel war in den Kasten gesegelt, der Vogel wackelte keinen Millimeter.
»Na, das kann ja lange dauern.« Mario sprach aus, was Viktoria dachte.
»Ich hol mal ’ne Cola«, antwortete sie und ging los, Richtung Getränkewagen. Als sie die rosafarbene Rosa am Zapfhahn erblickte, hätte sie sich am liebsten umgedreht, doch die hatte den Gast aus Berlin längst erkannt und winkte fröhlich.
»Huhuuu! Frau Latell! Ja, kommen Sie ruhig her. Hier gibt’s kühle Getränke.« Es war kurz nach elf und bereits siebenundzwanzig Grad warm, Viktoria spürte die Hitze auf ihrem Schädel. Fucking black hair , dachte sie. Ihre schwarz gefärbte Haarpracht speicherte die Sonnenwärme. Wenigstens hatte sie heute ihren luftigen, braunen Rock angezogen, sie würde also nicht sinnlos schwitzen müssen. Sie nickte Rosa zu und stand schon kurz vor dem Getränkewagen, als sie Martha Lütkehaus entdeckte. Beinahe hätte Viktoria sie übersehen. Sie trug ein schwarzes, formloses Kleid und stand im Schatten einer großen Buche. Sie war blass, ihre matten graublauen Augen schienen ins Nichts zu schauen. Viktoria überlegte nicht lange. Dieses Mal würde sie nicht vor einer verschlossenen Tür stehen. Hier und jetzt würde Martha ihr einfach antworten müssen.
»Guten Tag, Frau Lütkehaus. Mein Name ist Viktoria Latell. Ich arbeite für den Berliner Express und würde Sie gerne etwas fragen.« Viktoria klang freundlich, harmlos, aber bestimmt.
Und die hagere Frau vor ihr blickte sie mit ihren seltsam traurigen Augen an und nickte ganz langsam. »Aha, Frau Latell! Seltsamer Name – war Ihr Vater Franzose?«
»Nein.« Kein Zeichen des Wiedererkennens. Wusste sie nicht mehr, dass sie gestern vor ihrem Haus gestanden hatte? Hatte sie vergessen, dass sie sich bei Viktorias Anblick vor lauter Entsetzen bekreuzigt hatte?
»Der Name stammt von den Hugenotten, und mein Vater war ein echter Berliner. Er ist allerdings später nach Frankreich ausgewandert. Insofern bin ich ja vielleicht doch so was wie eine Französin.« Viktoria versuchte ihr Victory-Lächeln. Die Geschichte sollte fröhlich klingen – nicht nach der Wahrheit. Denn die war traurig. Viktoria kannte ihren Vater nicht, obwohl sie seinen Namen trug. Er war ein egozentrischer, genialer Künstler gewesen, den ihre Mutter angeblich abgöttisch geliebt hatte. Als sie schwanger wurde, war es aus mit der Liebe. Sie heirateten dennoch, weil er dachte, er sei es ihr schuldig. Doch dann verschwand er. Viktoria lächelte.
Martha Lütkehaus blieb ernst. »Wieso wollen Sie ausgerechnet mich etwas fragen, junge Frau?« Sie klang misstrauisch.
»Weil es um Ihren Mann geht …« Viktoria ging aufs Ganze. Martha wich einen Schritt zurück, weiter in den Schatten der Buche. Viktoria gab ihrer Stimme einen beiläufigen Ton. »Wissen Sie, ich muss doch alles Mögliche aufschreiben und recherchieren über das ganze Schützenfest hier. Mein Chef ist da extrem anspruchsvoll. Und bei allen Schützenkönigen konnte ich schreiben, wie alt sie sind, wann sie verstorben sind, was sie heute so machen. Nur bei Ihrem Mann, da bin ich ratlos.«
Martha schaute immer noch misstrauisch. »Ist das so wichtig?«
»Vielleicht nicht«, sagte Viktoria leichthin. »Aber ich habe gerne meine Informationen vollständig. Was kann ich also bei Ihrem Mann schreiben? Bernhard Lütkehaus, Schützenkönig von
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