Schützenkönig
1976, ist jetzt …«
Der Zug um ihren Mund wurde plötzlich hart, die vorher so milchig schimmernden Augen verengten sich zu kleinen Schlitzen. »Er ist weg!«, presste sie zwischen ihren schmalen Lippen hervor.
Doch Viktoria setzte nach. »Es heißt, er sei ausgewandert, aber es gäbe kein Lebenszeichen mehr von ihm seit ungefähr dreißig Jahren – stimmt das? Kann ich das so schreiben?«
Martha Lütkehaus trat aus dem Schatten. Das Sonnenlicht ließ ihr Gesicht noch blasser wirken. Sie zischte: »Schreiben Sie doch, was Sie wollen. In Berlin verschwinden jeden Tag Menschen, da lassen Mütter ihre Kinder verhungern, da krepieren Drogensüchtige auf der Straße – fragen Sie doch da mal nach, aber das interessiert Sie ja nicht. Lieber wollen Sie uns hier fertigmachen, uns Provinzler, uns Dummköpfe. Ich weiß, was Leute wie Sie von uns denken. Sie lachen über uns. Langweilig finden Sie uns, altmodisch, beschränkt. Aber es ist mir schon lange egal. Hauen Sie doch einfach ab, stöckeln Sie in Ihren teuren Schuhen einfach wieder zurück und lassen Sie uns hier in Ruhe.«
Mit erstaunlich schnellen Schritten ging sie an Viktoria vorbei. Fast schon fürchtete sie, die Alte würde noch vor ihr ausspucken, doch sie schaute sie nur noch einmal eisig an und verschwand. Rosas Singsang-Stimme erklang, und Viktoria freute sich schon fast darüber.
»Ja, Rosa, ich will was trinken. Ein Cola bitte. Eiskalt.«
»Wodka Red Bull!« Nico nuschelte seine Bestellung, ohne aufzuschauen. Links neben ihm saß Nele. Die Jungs nannten sie immer Nice-Nele, weil sie so hübsch war. Jetzt streichelte sie seine Hand. Nico spürte nichts, doch er ließ seine Hand auf dem Kneipentisch liegen. An seiner anderen Seite hockte Robin. Er lallte ihm etwas ins Ohr, was Nico nicht verstand. War aber auch egal, er nickte einfach mechanisch. Er trank sein gerade gebrachtes Glas in einem Zug leer. Ihm war längst schwindelig, er hätte aufhören sollen mit dem Trinken. Gleich würde er sich wieder übergeben müssen. Er würde es wieder kaum nach Hause schaffen. Doch Nele, Nice-Nele, hatte einen kleinen Fiat Panda. Ein lächerliches Auto, aber egal. Sie würde ihn schon bringen. Sie kümmerte sich. Dabei hat sie ihn früher nicht mal angeschaut. Doch seit Sarahs Tod hatte sich alles verändert.
Seine Mutter hätte ihm keinen Entschuldigungszettel für die zwei ersten Wochen im Januar schreiben müssen. Die Lehrer wussten ja auch so Bescheid. Der Mord an Sarah war in jeder Zeitung das große Thema, jeder Radiosender berichtete zu jeder vollen Stunde davon. Ein Mädchen sei erschlagen worden. Mal nannten sie sie Sarah K., mal die Achtzehnjährige, mal Schneewittchen. Nico las nichts davon, er hörte nicht zu, wenn die Nachrichtensprecher über sie sprachen. Er ertrug es nicht. Sarah war nicht tot, noch nicht. Sein Gehirn konnte diese Nachricht noch nicht aufnehmen. Also sah und hörte und empfand er nichts. Und er sagte nichts. Als die Polizei herausgefunden hatte, dass er der Freund des toten Mädchens war, kamen sie natürlich. Er versuchte nicht zu hören, was sie sagten, denn sonst hätte er ja begriffen, dass Sarah nie mehr seine Sarah sein würde. Sie würde zerfallen zu Staub und Asche, doch nicht für Nico. Also schaute er durch die Polizisten hindurch, und ihre Stimmen hörten sich an wie ein Rauschen. Wie hätte er da antworten können oder weinen. Er war tatverdächtig, doch er wusste es nicht. Sarah war tot – und er wollte es nicht wissen.
Dann sollte er etwas auf einen Zettel schreiben. Er tat es. Es war, als könne er nicht mehr schreiben, so schwer fühlte sich der Kugelschreiber in seiner Hand an. Er zitterte, als er immer wieder Worte mit einem E am Anfang auf den Zettel kritzelte. Er versuchte ja, sich zu konzentrieren. E, E, E. Wie sah eigentlich ein E aus? Er malte Kringel, Kreise, Schleifen, geschwungene wunderschöne Es. Was das sollte, begriff er erst später.
Seine Mutter hatte ihn dann an einem Morgen geweckt und ihm gesagt, er müsse jetzt zur Schule gehen. »Der Alltag lenkt dich ab«, sagte sie. Er wusste nicht so recht, was sie meinte, doch er ging. Vielleicht würde er ja in der großen Pause Sarah treffen. Sie würde an der kleinen Mauer auf ihn warten. Sie würde auf ihr sitzen und die Beine herunterhängen lassen. Die schwarzen Chucks würden abwechselnd gegen den Stein stoßen, Sarah konnte schlecht ruhig sitzen. Sie war immer in Bewegung.
In den ersten beiden Stunden hatten sie Mathe. Nicht gerade Nicos
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