Schützenkönig
sein Gesicht war leicht gerötet. »Hast nix verpasst. Das war nur der Flügel«, erklärte er wie ein kleiner Streber. Dann flüsterte er: »Das dauert hier noch eine Ewigkeit, die kriegen das einfach nicht hin. Sind wirklich zu blöde.« Dem jungen Mann, der sich gerade auf Kimme und Korn konzentrierte, rief er zu: »Jetzt ziel doch mal!« Offensichtlich waren die Schützenbrüder schon so betrunken, dass sie sich von Marios neunmalkluger Art nicht aus der Ruhe bringen ließen. Im Gegenteil. Ludger, der Würfler, steuerte mit einer Handvoll gefüllter Gläser auf Mario zu. »Hier, Meister. Zieh leer.« Zu ihrem Erstaunen tat Mario, was sein neuer Freund ihm gesagt hatte, und griff glücklich nach dem nächsten Bier. »Is aber auch was warm hier«, sagte er und machte einhändig ein Foto vom nächsten Schützen. Die Kugel blieb mit einem »Flopp« im Bauch des Holzvogels stecken, es war inzwischen 13.46 Uhr.
»Mario, du kommst alleine klar?«
»Klar, Chefin!«
»Ich schau mir mal an, was im Wäldchen los ist.«
Viktoria hatte Kinderstimmen und Pferdewiehern gehört. Sie ging zurück Richtung Zelt, durch den schmalen Pfad in die Schonung, in der am Abend vorher noch das Feuer Schatten geworfen hatte. Zwischen den Bäumen flatterten bunte Fähnchen, zwei Kinder saßen auf einem Pony, das ein alter Mann hin und her führte, und lachten. Viktoria hörte das Scheppern vom Dosenwerfen, sie sah Kletterstangen, an denen kleine Jungs hochkrabbelten, um an die Süßigkeiten zu gelangen, die ganz oben an einem sich drehenden Rad aufgehängt waren. Mütter standen mit Kinderwagen im Kreis, redeten, schwiegen, tranken Alsterwasser. Mädchen spielten Fangen. Viktoria dachte gerade an die TV-Serie Unsere kleine Farm , sie schmunzelte und erschrak. Direkt vor ihr stolperte ein kleines Mädchen mit Zopf und fiel hin. Unglücklicherweise stieß sie mit der Nase gegen eine harte Baumwurzel, sodass sie allen Grund hatte aufzuheulen. Das Brüllen des Kindes ging durch Mark und Bein. Unbeholfen stand Viktoria da und spürte die Blicke der Leute. Sie musste etwas tun. Aus dem Augenwinkel sah sie, wie ein freundlich aussehender Schützenbruder gerade seine Nase schnäuzen wollte. Sie rief: »Halt, können wir tauschen?«, und hielt ihm eine Packung Tempos hin. Er schaute verdutzt erst sie und dann sein frisch gebügeltes Stofftaschentuch an und lachte. »Na gut«, sagte er und reichte ihr das Tuch. Viktoria ging in die Knie und sprach ganz ruhig zu dem Mädchen: »Pass auf, ich habe da was, was sofort macht, dass das Aua weg ist.« Ach du Scheiße, ich spreche in Babysprache, dachte Viktoria. Aber egal, das Geheule war ja nicht auszuhalten. Sie nahm das Taschentuch, machte ein Dreieck daraus, legte die Ecken übereinander und verdrehte es so, dass es am Ende aussah wie ein Zylinder mit einem Schwanz daran. Mit viel Fantasie – und die sollten Kinder ja haben – war es eine Maus. »Sieh mal, was ich hier habe.« Aus dem Kreischen wurde ein Schluchzen, das Kind schaute neugierig auf das wurstige Taschentuch. Viktoria klang jetzt wie eine Märchentante. »Das ist eine Maus.« Die Kleine zog ihren Rotz hoch, sie kam näher. Viktoria beugte ihren linken Arm, als läge er in einer Schlinge, ihre Hand formte sie zu einem Nest, sie legte die Taschentuchmaus vorsichtig hinein. Mit der rechten Hand streichelte sie das Tier und das Mädchen wollte auch. Ganz sanft berührte es den Stoff. Es lächelte. Und Viktoria kickte die Maus mit ihrem linken Mittelfinger aus dem Handnest. Das Tierchen flog im hohen Bogen auf den Waldboden.
Das Mädchen kreischte. Aber dieses Mal vor Vergnügen. Flink rannte sie zur geflüchteten Maus, hob sie auf, kam zurück und hielt sie ihr entgegen. »Noch mal.« Ihr Gesicht war von den Tränen noch ganz nass.
Viktoria war stolz auf sich. Sie wiederholte den Maustrick. Zack den Finger vorgestoßen, das Tier flog durch die Luft, das Kind lachte, das Tier landete auf dem Boden.
Im Schatten der großen Buche stand Martha Lütkehaus. Ihre Lippen bebten. Dabei war ihr Blick starr auf das Mädchen und das Stofftier gerichtet. Dann sah sie Viktoria an. Direkt, klar und irgendwie weich. Fast schien es, als wolle sie auf sie zugehen. Doch sie drehte sich um und verschwand sehr langsam im Dunkel des Waldes.
»Woher können Sie das?« Eine freundliche junge Frau sprach Viktoria an. Die Mutter des Mädchens. Sie streichelte zärtlich den Zopf ihrer Tochter.
Viktoria blickte auf. »Was?«
»Na, diesen Trick mit dem
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