Schützenkönig
Lieblingsfach. Er war irritiert, dass der Lehrer ihn nicht aufrief, nicht nach seinen Hausaufgaben fragte, ihn nicht an die Tafel bat wie sonst. Seine Klassenkameraden hatten aufgehört zu reden, als er hereingekommen war und sich hingesetzt hatte. Sie schauten ihn an. Alle. Er schaute niemanden an. Es klingelte, und Nico ging zur Mauer. Alleine. Und er blieb an der Mauer alleine. Sarah war nicht da. Und plötzlich knallte eine Faust in seinen Magen. Nico krümmte sich. Er bekam keine Luft mehr, ihm wurde schwindelig, seine Beine knickten weg, und er lag auf dem Pflaster vor der Mauer. Sarah würde nie wieder auf dieser Mauer sitzen und auf ihn warten. Nie wieder. Er hatte es begriffen und war zu Boden gegangen, und fünfhundertvierzig Schüler des Erich-Kästner-Gymnasiums sahen, wie er k.o. ging, ohne dass ihn jemand geschlagen hätte.
Als Nico wieder Luft bekam, stand er auf. Er sah in die neugierigen Gesichter seiner Mitschüler. Er verzog keine Miene, doch diejenigen, die er mit seinem Blick fixierte, wichen einen Schritt zurück. Hatten sie gerade in die Augen eines Mörders geschaut?
Jeder sprach über den Mord. Die, die ihn für unschuldig hielten, und die, die ihn schon immer seltsam fanden. Nico sah, wie sie ihn ansahen. Es war eine Mischung aus Angst und Neugierde. So oder so, er war auf einmal interessant. Bislang war er maximal ganz okay gewesen oder nett. Doch das jetzt fühlte sich an, als sei er größer geworden. Wichtiger. Die cooleren Jungs zeigten sich plötzlich in seiner Nähe. Die harten Mädels blinzelten ihm zu. Und dann entdeckte Nele seine andere Seite.
Seine sanfte, traurige. Sie hatte ihn weinen gesehen. Auf einer Parkbank auf dem Traveplatz in Friedrichshain. Sie wollte nur schnell mit dem Hund raus. Da saß er völlig verheult und betrunken auf dem ranzigen Holz. Sie setzte sich neben ihn. Und streichelte seine Hand. »Traurig?«, fragte sie. Und: »Ist es wegen Sarah?«
Er nickte und versuchte, die Tränen wegzuwischen, doch es kamen neue. Nicht zu fassen, dass Nele sich neben ihn gesetzt hatte. Das hübscheste Mädchen der Schule, und er heulte wie ein Baby. Nele fühlte sich großartig als Trösterin. Und sie war genauso neugierig wie alle anderen. Sie hörte ihm also zu, als er von Sarah erzählte. Und dass es ihm leidtäte, dass er ihr nicht oft genug gesagt hätte, wie lieb er sie gehabt hätte. Und jetzt sei sie tot.
Nele konnte nicht anders, sie weinte mit ihm. Und sie war glücklich. Endlich mal ein Junge mit Tiefgang, dachte sie. Endlich mal einer mit echten Gefühlen. Und einer, vor dem die anderen Angst hatten. Sie hörte seitdem nicht mehr auf, seine Hand zu streicheln. Nur manchmal stellte sie sich vor, dass in dieser schönen Hand ein Stein lag. Ein schwerer Stein.
Zum Abschied hatte sie ihm einen Kuss gegeben. Keinen Tantenkuss. Einen richtigen. Und gewehrt hat sich der Kleine nicht gerade, dachte Marie Latell mit einer gewissen Genugtuung. Michael war süß und klug und nett – und ein bisschen willig. Aber es war Zeit zu gehen. Sie wollte aufräumen. Die Wohnung, die Fotos, ihren Kopf. Sie begann mit den drei großen Kartons voller Akten und Bilder. Sie hatte genug leere Ordner und Fotoalben, doch sie hatte es nie geschafft, sie zu füllen und dem Chaos ein Ende zu machen. Jetzt musste sie es tun. Für sich. Für Viktoria.
Sie war noch da. Die Heiratsurkunde. Dabei hatte sie nie heiraten wollen. Zu spießig, zu langweilig. Doch da war das Kind gewesen und diese Verantwortung. Sie schaffte es einfach nicht mehr alleine. Also war sie froh, als Bruno Latell sie fragte, obwohl sie wusste, dass es nicht gehen würde. Vielleicht hat sie auch nur Ja gesagt, weil es nicht gehen würde. Er war aufregend wie ein Pulverfass. Eine große Portion Alain Delon und Picasso, gemixt mit Che Guevara. Er malte sie, er begehrte sie, er liebte sie – genau in dieser Reihenfolge. Er schenkte ihr seinen wunderschönen Nachnamen und legte ihr Berlin zu Füßen, dann verschwand er wieder. Wenn Viktoria älter ist, wenn sie in die Schule kommt, dann werde ich ihr von ihrem Vater erzählen, nahm sie sich vor. Alles werde ich ihr erzählen. Doch es blieb bei dem Wenigen. Wenigstens hatte das Kind jetzt einen wunderschönen Namen.
Der Sommerwind wehte Jubel und Applaus über den Festplatz. Viktoria hatte ihre Cola gierig ausgetrunken und ging gestärkt über die nach Heu duftende Wiese zur Vogelstange. Mario lächelte sie breit an, in der linken Hand hielt er ein Bier, rechts die Nikon,
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