Schützenkönig
geliebt …« Dann legte Marie Latell ganz vorsichtig auf.
Sie versuchte, die Fliesen zu zählen. Von links nach rechts, die erste war dunkelrot, fast schon braun, die nächste weiß, dann wieder dunkelrot. Dunkelrot wie Ochsenblut, dachte sie. Ochsenblut ist dunkelrot und schlecht von alten Dielen abzubekommen. Sie konnte sich nicht konzentrieren. Sie wollte sich nicht konzentrieren. Viktoria hatte Angst. Angst vor der Wahrheit. Zählen, dachte sie, zählen. Eine Fliese, zwei Fliesen, dunkelrot wie Ochsenblut.
»Wann kommen sie?« Ganz leise hatte sie gesprochen, es war weniger als ein Flüstern.
»Wer kommt?«, Viktoria sprach genauso leise.
»Die Polizei …«
Sie schaute auf den Koffer, der neben Martha Lütkehaus auf dem Fliesenboden stand. Er war aus Leder, aus braunem Leder. Nicht groß, vierzig mal dreißig Zentimeter. Kompakter als mein Rollkoffer, dachte sie. Und viel älter. Vielleicht hatte sie ihn zu ihrer Hochzeit bekommen. Zu ihrer Hochzeit mit dem Geliebten meiner Mutter, dachte Viktoria. Weiße Fliese, Ochsenblut-Fliese, zwei, drei, vier, fünf, sechs. Der Koffer würde gut als Handgepäck durchgehen. Sehr praktisch, nie wieder am Gepäckband warten: »Hat er sich wegen Mama umgebracht?« Viktoria schaute Martha Lütkehaus nicht an. Sie fürchtete sich vor der Antwort.
Ihre knorrigen Hände lagen ganz ruhig auf dem Tisch, fast wie zu einem Gebet gefaltet. Ihr Rücken war krumm, ihr hagerer Körper zusammengesunken, sie sah furchtbar zerknittert aus. Hutzelzwergin, dachte Viktoria.
Das schwarze Kleid war an einigen Stellen ausgebessert, die grauen Haare waren zu einem Dutt gebunden, ihren Blick hatte sie gesenkt, sie konnte höchstens die vergilbte Tischdecke sehen – Viktoria schaute sie nicht an. Ein kleiner, durchsichtiger Fleck breitete sich auf dem Stoff unter ihrem Gesicht aus. Eine Träne. Plötzlich schien irgendetwas ihren ganzen Körper zu schütteln. Sie zuckte, dann sah sie auf. Salzwasser in ihren Augen.
»Hat er sich wegen Mama umgebracht?« Viktoria fragte noch einmal mit brüchiger Stimme. Martha schluchzte, statt zu antworten. Dann, als sei sie plötzlich aufgewacht, richtete sie sich gerade auf und begann, zu sprechen. Von ihrem Mann und Viktorias Vater.
»Deine Mutter.« Martha spuckte die Worte beinahe aus. »Sie hat ihn kaputt gemacht, sie war schuld.«
Viktoria schaute durch das Fenster in die Ferne. »Ich habe ihn gesehen, am Baum. Er hing da und baumelte hin und her. Ich habe ihn gesehen …« Sie wurde leiser. »Ich war doch noch so klein!«
Martha schaute sie traurig an, fast mitleidig.
»Was ist passiert? Damals. Was ist mit ihm passiert? Warum ist er tot, warum habe ich ihn so gesehen, warum hat mich niemand beschützt?« Eins, zwei, drei, vier, weiß, ochsenblutrot, weiß, ticktack, ticktack. Sie zählte, hörte, zählte, um nicht verrückt zu werden. Ihr Kopf wollte explodieren, sie konnte die Dinge nicht einordnen, es kam ihr vor, als würden ihre Gehirnzellen in altem Slime hilflos umherpaddeln. Nur eines wusste sie. Der Traum war kein Traum. Sie hatte Bernhard Lütkehaus am Baum hängend gesehen. Sie hatte ihn genauso gesehen, wie sie das Loch unter dem Fuß des Jesus am Kreuz gefühlt hatte, sie hatte seine Leiche im Wind schaukeln sehen, sie kannte den Baum, an dem das Seil hing, das er sich um seinen Hals gelegt hatte. Sie kannte die kräftigen Hände, die schlaff an dem toten Körper herabhingen. Diese Hände hatten einmal aus einem Taschentuch eine kleine Maus gefaltet, die immer wieder in die Wiese vor ihre Füßen gehüpft war. Ich ertrinke in Slime, in grünem wabernden Slime, dachte sie. Diese klebrige Glibbermasse, die in den Achtzigerjahren bei Kindern so angesagt war. Die Achtziger sind in, dachte sie. Die Achtziger sind wieder in. Ich muss unbedingt meine Nena-Schweißbänder wiederfinden, die liegen noch irgendwo in einer vergessenen Schublade. Der Gedanke tröstete sie, coole Nena-Schweißbänder.
Marthas knorrige Hände, die vorher noch so ruhig dagelegen hatten, als gehörten sie nicht zum Rest des Körpers, begannen zu arbeiten. Ein Fingerringkampf, rechte Hand gegen linke Hand. Einen Sieger würde es nicht geben.
Sie begann mit ihrer Geschichte, die auch Viktorias Geschichte war. Ihre Worte krochen leise und tonlos aus ihrer Kehle. Die Traurigkeit und Müdigkeit in ihrer Stimme dämpfte alles in dieser großen Küche. Die Uhr schien langsamer und leiser zu ticken, die Stickbilder an den Wänden verschwommen vor Viktorias Augen, der
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