Schützenkönig
irgendetwas mit dem Tod von Bernhard Lütkehaus zu tun. Vielleicht hat er ja die Lungenentzündung falsch behandelt. Taucht die überhaupt in Lütkehaus’ Krankenakte auf? Steht da etwas über Husten oder was weiß ich, was da stehen müsste?«
»Nein.«
»Und das wundert dich nicht?«
»Nein. Vielleicht war Lütkehaus ja gar nicht bei ihm. Dann hätte mein Vater ihn auch nicht falsch behandeln können.«
»Er hat sich also zu Hause totgehustet, ohne vorher einen Arzt zu fragen? Ich meine, das Ganze spielte sich doch 1980 ab und nicht im Mittelalter. Ich glaube das nicht.«
»Du kennst meinen Vater nicht. Der hat immer alles richtig gemacht.«
Viktoria verzog verächtlich das Gesicht. »Wer immer alles richtig macht, der macht auf jeden Fall etwas falsch.«
»Was soll das denn schon wieder heißen? Du kanntest ihn doch gar nicht.« Kai wurde langsam wütend.
»Das gilt nun mal universell, allgemein für jeden Menschen dieses verdammten Planeten. Oder war dein Vater Gott?«
»Na ja, manchmal kam er mir so vor.« Kais Stimme klang schon wieder etwas freundlicher.
Viktoria sprach weiter: »Wusstest du, dass ein Arzt einen Totenschein über seine eigene Frau ausstellen darf und dass es deshalb wahrscheinlich Hunderte perfekte Morde gibt?«
»Meine Mutter lebt zum Glück noch – was soll das also?«
»Ich will damit nur sagen, dass so ein Totenschein ziemlich wichtig ist – und dass derjenige, der ihn ausstellt, ganz schön was vertuschen kann, wenn er will …«
Das war zu viel. Kais Augenbrauen hoben sich. »Jetzt pass mal auf, du Superreporterin. Wenn hier einer Dreck am Stecken hat, dann bist du das. Tauchst hier auf mit deinem zauberhaften Lächeln und tust so, als interessiere dich unser Schützenfest. Dabei geht es doch nur darum, uns lächerlich zu machen. Eine Hausfrau, die beinahe Amok läuft – wie lustig. Doch auch das ist dir viel zu langweilig, also wühlst du jetzt so lange hier rum, bis du noch irgendeine tolle Story findest. Martha Lütkehaus hat erst ihren Mann und dann ihr Kind verloren, sie hat es im Garten vergraben und ein Kreuz daraufgelegt, und ich schäme mich, dass wir seine Totenruhe gestört haben. Ihr Mann ist gestorben, und das einzige Rätselhafte daran ist, dass alle dachten, er sei ausgewandert. Na und, vielleicht hat sie es allen so erzählt, vielleicht hat sie gelogen. Vielleicht erträgt sie es nicht, dass er tot ist, und stellt sich lieber vor, er lebe irgendwo glücklich und zufrieden in Australien.«
Viktoria wollte etwas sagen, doch Kai hob einen Zeigefinger.
»Mein Vater war nicht Gott, vielleicht hat er einen Fehler gemacht. Aber er war aufrecht und ehrlich und auf gar keinen Fall einer, der einen Fehler nicht eingestand. Eigenschaften, die man in Berlin offensichtlich nicht gebrauchen kann …«
Viktoria schnappte nach Luft.
Kai drehte sich um und wollte gehen.
»Bleib!«, sagte sie laut. Er blieb stehen, und sie wurde leise: »Du hast recht.« Kai schaute sie neugierig an. »Aber nicht in allen Punkten der Anklage.« Viktoria wagte ein scheues Lächeln. Kai verzog keine Miene. Er wartete. »Ich bin vielleicht nicht so aufrecht, wie ich es sein müsste. Aber so durchtrieben, wie du denkst, bin ich nun auch wieder nicht. Ich habe einfach schlecht geträumt.«
Kai hörte zu. Und begriff. Der Tote am Baum, der vom Traum zum Verdacht geworden war, war Teil von Viktorias Vergangenheit. Und er war auch Teil der Vergangenheit seines Vaters. Eines Teils, den er nicht kannte. Den er erst noch entschlüsseln musste. Er wusste nicht, was er davon halten sollte, dass sie ihm alles sagte. Dass er ihr Vertrauter war. Ihr Seelentröster. Er wusste nicht, was er tun, was er sagen sollte. Und so rettete er sich mit Sachlichkeit.
»Und was sagst du jetzt deinem Chef? Verheimlichst du ihm deine Mutter und schreibst nur den Rest auf?«
»Ich werde ihm klarmachen, dass der Tote einfach nur tot ist und die Sozialreportage über das Schützenfest schon genug Tiefgang und Unterhaltungswert besitzt. Und dass sich die Sache mit dem Biber zerschlagen hat.«
»Was für ein Biber?«
»Ach vergiss es«, Viktoria winkte ab, erzählte ihm aber trotzdem, worum es ging. Doch Kai kam wieder auf Bernhard zurück.
»Wieso hast du deinem Chef überhaupt was von dem mysteriösen Verschwinden von Lütkehaus erzählt?«
Viktoria gab sich einen Ruck. »Also, um ehrlich zu sein. Er wollte, dass ich die Sache hier abbreche, weil das ganze Landding ihn auf einmal langweilte und er doch lieber
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