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Schützenkönig

Schützenkönig

Titel: Schützenkönig Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Katrin Jäger
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Herd, der Wasserkessel darauf, die Fenster – alles war weit entfernt. Die Wände waberten, die Decke drückte nach unten. Im Mittelpunkt dieses unendlichen, dieses verschwommenen Universums saßen die hagere, gebückte Martha Lütkehaus und Viktoria, die sich aufrecht hielt. Doch auch ihre Hände kneteten einander unter der Tischplatte. Noch ein Fingerringkampf ohne Sieger.
    Martha und Bernhard hatten einander am 3. Mai 1970 kennengelernt. An diesem Donnerstag, es war einundzwanzig Grad warm, der Himmel war hellblau, kam Bernhard auf den Hof der Bauern Schulte, um ihnen ein Angebot für einen Traktor zu machen. Die Schultes hatten Bernhard erwartet. Er hatte gerade seine Lehre zum Landmaschinenschlosser beendet und arbeitete seit ein paar Wochen bei Landmaschinen-Bessing in Warendorf. Sein Chef, Friedrich Bessing senior, war froh, den Jungen eingestellt zu haben. Er hatte Vorbehalte gehabt, denn Bernhard Lütkehaus war frech und hübsch. Dass er gerade erst neunzehn geworden war, konnte man zwar sehen – der zarte Bartflaum auf seiner Oberlippe verriet alles –, doch seine Art, sich geschmeidig zu bewegen, zu sprechen, seinem Gegenüber direkt in die Augen zu schauen, der feste Händedruck – all das hatte nichts von einem Halbstarken. Keine übertriebenen Gesten, keine linkischen Bewegungen. Bernhard Lütkehaus war sich seiner sicher. Er wusste offensichtlich, dass er überdurchschnittlich gut aussah – breites Kreuz, sehniger Körper, strahlend blaue Augen, blonde Haare, markante Nase –, er wusste, dass er überdurchschnittlich flink im Kopf war. Und Friedrich Bessing senior war nicht sicher, ob seinen Kunden – überwiegend Landwirte aus Warendorfs Umland, knurrig, wortkarg, westfälisch – das gefallen würde. Bernhard sollte erst einmal zur Probe arbeiten, danach würde man sehen.
    Nach drei Tagen hatte der junge Mitarbeiter seinen ersten Traktor verkauft. Zufallstreffer, lästerten die älteren Kollegen. Es folgte ein Fahr M 88 S, ein Mähdrescher, ein dicker Fisch. Lütkehaus bekam seinen Vertrag, ein ordentliches Gehalt und das Versprechen, schon bald am Umsatz beteiligt zu werden.
    Bernhards Verkaufsstrategie war genial: Er verzichtete auf jegliche Strategie. Er hörte zu, was die Interessenten wollten, und bot ihnen nur genau das an. Er überredete niemanden, sondern gab Auskunft. Er machte der Landwirtin keine Komplimente über den gepflegten Garten, und mit dem Bauern redete er nicht über das launische Wetter. Er hatte Ahnung, er kannte jedes kleinste technische Detail des Produkts, er wusste genau, welche Maschine zu wem passte, und er bremste verkaufswütige Großmaschinenfans, die sich gerne von XXL-Rädern und Rekord-PS-Zahlen blenden ließen, um sie vor einer Fehlinvestition zu bewahren. Er war sachlich, sein Aussehen musste an Nettigkeit reichen.
    Schultes waren begeistert von seiner Kenntnis und seiner Geduld. Sie hatten Sorge, dass der Traktorkauf sie finanziell ruinieren könnte, deshalb waren sie besonders vorsichtig und wogen jedes Kaufargument ab. Bernhard begriff allerdings schnell, dass nicht Herr oder Frau Schulte entscheiden würde, ob es ein Fendt, McCormick oder ein Deutz werden würde. Die einzige Tochter Martha hatte auf dem Schultenhof das Sagen – auch wenn sie an diesem schönen, warmen Tag sehr wenig sagte.
    Es waren ihre ernsten Augen und die Art, wie sie ihren Rücken gerade hielt, die Bernhard faszinierten. Als sie den Verkaufsvertrag überflog und ihn nach jeder Seite anschaute, als könne sie so herausfinden, ob er es gut mit ihnen meinte oder ob er ein windiger Geschäftemacher sei, bekam er Herzklopfen. Sie trug nur einen einfachen dunkelblauen Arbeitskittel, doch sie sah darin aus wie eine dieser Frauen aus den Schwarz-Weiß-Filmen der Vierzigerjahre. Elegant. Schlank. Erhaben. Aufregend. Bernhard wusste, dass sie auf ihn herabblickte. Er war zehn Jahre jünger als sie, er war in ihren Augen noch ein Kind. Sie war eine Frau. Eine unnahbare Frau. Und er wollte sie haben. Er wollte diese ernsten Augen strahlen sehen. Vor Liebe zu ihm. Und weil es Bernhard Lütkehaus in die Wiege gelegt war, andere Menschen für sich einzunehmen – weil er so aussah, wie er aussah, und weil er so war, wie er war –, liebte sie ihn schon ein kleines bisschen, als er ihr den Kugelschreiber zum Unterzeichnen des Kaufvertrages über einen Deutz D 4006 mit vierzig PS reichte.
    Natürlich musste er in den Tagen darauf immer mal wieder anrufen und vorbeischauen, um die

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