Schützenkönig
versetzte ihn in leichte Panik. Und während Tim Möcke sich die langen, schweißnassen Ponyhaare aus der Stirn strich, entdeckte er ihn. Auch wenn er ihn nicht sofort erkannte, denn der Reporter war wie ein Schützenbruder angezogen. Er trug die gleiche Jacke und die gleiche Hose wie alle hier – und er wirkte gar nicht arrogant, sondern sehr, sehr lustig. Um ihn herum standen jede Menge Leute, und selbst wenn Tim Möcke in diesem Moment nicht der Mut verlassen hätte, so wäre es ihm nicht möglich gewesen, dem Reporter von seinen Beobachtungen zu erzählen. Also schaute er zu, wartete und entwickelte einen Plan B.
Als Mario Siewers zu einem der Biertische wankte und seine Schützenjacke über die Stuhllehne warf, wusste Tim, was er tun würde. Es dauerte noch ein paar Biere, zwei Schnäpse, elf Schulterklopfer und zweiundzwanzig laute Lacher, dann war die Zeit reif. Mario Siewers musste zum Klo. Er stand auf, nahm im Stehen noch einen Schluck, nestelte an seinem Hemd herum, das trotzdem nicht zurück in die Hose wollte, und ging Richtung Toilettenwagen.
Tim näherte sich von hinten dem leeren Stuhl. Als er angekommen war, bückte er sich und sagte halblaut: »Blöde Schuhbänder.« Er tat so, als mache er eine Schleife, und während er sich aufrichtete, steckte er die Filmdose und das Papier in Mario Siewers Jackentasche.
Der Schlüssel in der Hand von Elisabeth Upphoff war eiskalt. Ferdinand hatte ihn im Gefrierschrank in der untersten Schublade versteckt. Er wusste, dass Elisabeth dieses Fach mied wie der Teufel das Weihwasser. Was man nicht alles im Angesicht des Todes tut, dachte Elisabeth und unterdrückte den Brechreiz, als sie am Plastikgriff zog und mit der eisigen Luft die Erinnerungen auf sie einströmten.
Sie atmete nicht und tastete im leeren Fach nach dem kleinen Sesam-öffne-dich. Als sie ihn fühlte, war es wie an jenem Ostertag vor zwei Jahren. Aber nicht, weil sie etwas Schönes gesucht und gefunden hatte und in ihr Körbchen legen konnte. Nein, der Osterhase hatte ihr etwas ganz und gar Ekelhaftes gebracht: etwas von Klaus Bühlbecker, dem Oberschützenbruder, dem Freund ihres Mannes, dem Schultertätschler, der sie nicht schießen lassen wollte und sie behandelt hatte wie den letzten Dreck. Nicht nur an jenem Tag, als sie durchdrehte. Auch Ostermontag vor zwei Jahren hatte er ihr jovial an die Schultern gegriffen. Als Entschuldigung. Dabei grinste er, und ihr Mann Ferdinand machte hinter ihrem Rücken Faxen, sie hatte es genau gespürt. Dabei war da nichts zu entschuldigen.
Die beiden Männer hatten zusammen mit ein paar anderen vom Verein getrunken. Zu schnell, zu viel, zu durcheinander. Dann machte der Gasthof zu und Ferdinand hatte die Idee, seinen alten Partykeller zu aktivieren. »Hey«, hatte er die anderen überredet. »Kennt ihr noch den Fuchs mit den leuchtenden Augen?« Vier Männer mit rot geränderten Augen trampelten durch den frisch gewischten Flur, die Kellertreppe hinunter und tranken noch weiter – doch die halbe Kiste Krombacher reichte ihnen schon. Viel passte ohnehin nicht mehr in ihre Bäuche. Elisabeth lag längst im Bett und horchte. Schon nach einer Stunde waren alle wieder verschwunden, sie atmete auf. Ferdinand ließ sich auf die Matratze fallen und schlief sofort ein. Sein Schnarchen hielt sich in Grenzen, seine Fahne nicht. Sie nahm es hin.
Am nächsten Tag ließ sie ihn ausschlafen. War auch gut so, sie wollte in der Küche ganz in Ruhe den Sonntagsbraten vorbereiten. Die Kinder würden vorbeikommen. Und sie würde das neue Rezept ausprobieren, endlich! Sie bereitete die Gewürzmischung vor. Curry und scharfes Chili, das Ganze war richtig exotisch. Elisabeth lächelte vor sich hin. Dann ging sie in den Keller, um das Fleisch aus dem Gefrierschrank zu holen, bis zum Mittag sollte es auftauen, am frühen Abend war das Osteressen geplant. Der Braten lag im untersten Fach, in tiefgekühltem Erbrochenem.
Nie würde sie den Gestank vergessen, als sie die Schublade auftaute, um sie irgendwie sauber zu bekommen. Sie wusste nicht, warum sie sie nicht einfach in den Müll geworfen hatte. Zu sparsam, zu gewissenhaft, zu blöd war sie. Sie stand im Garten, ekelte sich, ärgerte sich und hielt einen Föhn über die Schweinerei.
Ferdinand war plötzlich hinter ihr und schrie: »Was ’n das für ’n Lärm, da kann man ja gar nicht schlafen.« Sie konnte nicht antworten. Tränen standen ihr in den Augen, sie hielt sich die Nase zu. Er drehte sich um, die Terrassentür
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