Schützenkönig
letzten Details des Verkaufs und der Übergabe des Traktors zu regeln. Nach ein paar Wochen fragte er sie ganz nebenbei, ob sie mit ihm zum Schützenball gehen wolle und sie sagte Ja. Ob ihre Augen dabei strahlten, konnte er nicht sehen, denn sie hatte zu Boden geschaut.
Als sie ein paar Monate später in dem kleinen Badezimmer seiner kleinen Wohnung stand, sich ankleidete und ihm sagte, dass sie schwanger sei – da konnte er es sehen. Das Strahlen. Er lag auf dem Bett und betrachtete durch den Türspalt seine aufrechte, schöne, ernste Martha. Obwohl sie sich unbeobachtet fühlte, bewegte sie sich mit einer Anmut, die ihm immer wieder den Atem raubte. Sie hatte so gar nichts von den hübschen Mädchen seines Alters. Die plapperten, malten ihre Lippen rot und nähten ihre Miniröcke noch kürzer, als sie es ohnehin schon waren. Sie zog sich ihren schmalen grauen Rock an, dazu eine weiße Bluse und die schwarzen Schuhe. Dann kämmte sie ihr Haar und steckte es hoch, indem sie ihre schlanken Arme hob und eine Spange geschickt hineinsteckte. Er sah, wie sie sich im Spiegel betrachtete, und hörte kaum, was sie sagte: »Ich glaube, wir bekommen eine Baby.« Es klang, als habe sie nur zu ihrem Spiegelbild gesprochen und nicht mit ihm. Doch als er die Tür aufriss, um sie zu umarmen, konnte er es im Spiegel sehen. Das Strahlen, die Liebe, das Glück. Es war das erste und das letzte Mal, dass er es sah.
Die Blutungen kamen zwei Wochen vor der Hochzeit. Wie hätte man da noch absagen können? All die Gäste, all die Verpflichtungen. Der Saal, das Essen, die Torte, der Pastor, der Blumenschmuck. Was sollte man den Leuten sagen? Wir haben unser Kind verloren, von dem ihr noch nichts wusstet? Was hätte er tun sollen? Sie nicht heiraten, weil sie nicht mehr schwanger war?
Dass sie nicht lächelte, fiel kaum einem auf – sie lächelte ja auch sonst sehr wenig, die ernste Martha. Er spülte mit Bier und Schnaps das Lachen aus seiner Kehle, in dem es sonst stecken geblieben wäre. Dass sie blass war, merkten vor allem die Frauen. »Bist du etwa schwanger?« Ihr Kichern schmerzte in ihrer beider Ohren und Mägen. Die Musik der Drei-Mann-Band hämmerte in ihren Köpfen, in ihrer Hochzeitsnacht erbrach er das Zwiebelfleisch und die Hühnerbouillon, sie drehte ihm den Rücken zu und starrte die Tapete mit den kleinen Rosen an. Weil er nicht wusste, was er sagen sollte oder was er tun konnte, legte er sich vorsichtig neben sie und traute sich nicht, sie zu berühren. Als im Morgengrauen der erste Zug von Münster nach Osnabrück an ihrem kleinen, alten Häuschen vorbeiraste, in dem einmal Marthas Großtante Josefine gewohnt hatte und das jahrelang leer stand, bevor Bernhard und Martha es haben wollten, flüsterte sie: »Du wirst mich verlassen.« Endlich wusste er, was er tun und sagen musste. Er legte seine Arme um seine aufrechte Frau und sagte: »Niemals.« Er hörte ihr Schluchzen und hielt sie noch fester. Er spürte, wie sie bebte, er fühlte, wie sie litt. Das Baby würde nicht geboren werden, es war tot. Er wusste es, er begriff es, aber es tat ihm nicht so weh wie ihr. Er liebte Martha und nicht das Kind, das er nicht kannte, das er nicht in seinen Armen gehalten hatte und das er nicht halten würde. »Niemals«, sagte er. »Niemals werde ich dich verlassen.« Dass er sein Versprechen zehn Jahre später brechen wollte, brach ihm das Genick.
18. Kapitel
Tim trat wie wild in seine Pedalen. Er überholte Fußgänger, Kinderwagen, Rollatorschieber im Zickzackkurs, bremste, saß kaum auf seinem Sattel, fuhr im Stehen und wirbelte jede Menge Staub auf, als er endlich beim Schützenplatz angekommen war. Er ließ sein Fahrrad fallen und rannte los. Doch schon nach wenigen Metern blieb er stehen. Wie sollte er eigentlich den Fotografen ansprechen? Was sollte er ihm sagen? Tim hielt den Geldbeutel fest, fühlte die Filmdose, hörte das Papier knistern. Vorhin war er noch so sicher gewesen, doch jetzt wusste er gar nichts mehr. Schiss hatte er. Der Mann mit dem gelben Auto wirkte schon ganz schön arrogant. Würde er einen Jungen wie ihn überhaupt ernst nehmen? Tim war zwar sportlich, aber für sein Alter ein bisschen zu klein geraten. Außerdem konnte er sich nicht so gut ausdrücken. Deshalb hatte er im Mündlichen auch immer so schlechte Noten. Er schrieb halt lieber auf, was er sagen wollte, und so hatte er es ja auch gemacht. Jetzt zu diesem Fremden zu gehen und nicht mal zu wissen, ob er ihn duzen oder siezen sollte,
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