Schützenkönig
machte er immer wieder Abstecher in die Studentenwohnung von Marie. Wenn sie im Gasthof König kellnerte, brachte sie das Mädchen mit – und Bernhard musste an diesen Tagen immer dringend mal wieder ein kleines Bierchen trinken gehen. Dass kein Westbeverner Verdacht schöpfte, lag daran, dass Viktoria einen erfundenen Vater bekam. Über den Marie gerne meckerte.
Die Männer an der Theke meckerten mit. »Was für ein gemeiner Hund, dich einfach alleine mit Klein Püppi zu lassen.« Niemand fand es seltsam, dass Bernie so einen besonderen Draht zu ihr hatte. Alle wussten, dass er Kinder liebte und sich welche wünschte. Alle wussten, dass es bei Martha nicht klappte. Und Martha wusste, dass Viktoria die Tochter ihres Mannes war.
Aber sie sagte es nicht. Lieber ertrug sie seine Ausreden, seine liebevollen Blicke, wenn er das Kind ansah, die verstecken Babyfotos, all die Lügen und Demütigungen. Sie würde ihm auch bald ein Kind schenken, und dann hätte sie ihn wieder für sich. Nach der letzten Fehlgeburt hatte sie beschlossen, nur noch nach vorn zu schauen. Kein Baby, das nicht bei ihr bleiben wollte, würde sie mehr betrauern. Sie würde nur noch beten, dass eines bliebe.
Nachts träumte sie von seinem Kind, dem kleinen Bastard. Die Träume waren schrecklich. Sie nahm darin das Kind aus dem Kinderwagen und drückte es so fest und so lange, bis es aufhörte zu schreien. Wenn sie aufwachte, spürte sie immer noch den Hass in sich, und sie schämte sich furchtbar dafür. Manchmal ging sie an solchen Tagen in die Kirche und betete. »Lieber Gott, nimm diesen schrecklichen Hass von mir. Ich erkenne mich nicht mehr, ich will töten. Und das darf nicht sein!« Doch Gott hörte nicht auf sie. Sie hasste das fremde Kind mit Leib und Seele. Und sie wollte es töten.
Das erste Album war schon voll. Marie klebte die Fotos in der Reihenfolge ein, in der sie sie in der Kiste fand.
Die kleine Viktoria mit eins, mit zwei, mit drei. Ihre Haare waren dunkel und kräftig und wunderschön lockig. Sie selbst hatte das Studium längst abgebrochen. Aber ihr lässiges Studentenleben ging weiter. Sie trank viel Rotwein, diskutierte mit langhaarigen Sozialwissenschaftlern und schlief mit ihrem Liebhaber aus Westbevern. Sie wusste, dass sie bei Männern gut ankam, dass sie bei Bernhard gut ankam – aber eben nicht mehr. Sie wollte ihn aber ganz. Oder sie wollte das Gefühl haben, ihn ganz haben zu können. Beides gab er ihr nicht. Und so beschloss sie, die Sache ernsthaft in die Hand zu nehmen.
»Berlin mit mir und Viktoria, oder wir vergessen es.« Marie sagte es ganz nebenbei, Bernhard beobachtete gerade Viktoria, wie sie Zwiebackreste auf die Enten am Aasee warf.
»Wie, Berlin?« Seine Stimme klang noch ganz ruhig.
»Wir gehen nach Berlin. Und du kommst mit.« Sie versuchte, ganz cool zu klingen, Pokerface.
»Was soll das, Püppi?« Bernhard schaute kurz zur Seite und dann wieder auf die weglaufenden Enten.
»Du wirst dich nie von deiner Frau trennen.«
»Ja, wie schon tausend Mal besprochen. Ich kann ihr das nicht antun.«
»Musst du ja auch nicht. Bleib schön bei ihr. Bleib in deinem Scheißkaff und verkauf weiter deine Trecker …«
Bernhard lächelte bitter. Marie spürte, dass er ihr entglitt. Sie musste den Einsatz erhöhen.
»… und vergiss Viktoria.«
Bernhard stand auf. »Das kannst du nicht machen.« Viktoria schaute herüber, lachte und rief irgendetwas, dann kramte sie weiter in der Zwiebackschachtel.
Marie schaute Bernhard an. »Du weißt, dass ich es kann. Und ich weiß, dass du es auch kannst. Du willst doch nicht ewig in deinem Westbevern bleiben. Du bist doch viel mehr als Schützenverein, Bier an der Theke und Landmaschinenvertreter. Du bist doch anders, du träumst doch auch immer von einem weiten Leben ohne diese ganzen Spießergrenzen. Jetzt gebe ich dir die Chance dazu.«
»Die Chance, in einer dreckigen Stadt zu wohnen? Die Chance, meine Frau zu vernichten? Bleib mal ganz unten auf dem Boden, Marie.« Er hatte es arrogant gesagt, von oben herab. Marie riss sich zusammen, Pokerface.
»Wie du meinst. Morgen früh um 5.36 Uhr sitzen Viktoria und ich im Zug nach Osnabrück. Und von dort fahren wir direkt weiter nach Berlin. Entweder du packst deinen Koffer und steigst ein, oder du tust es nicht und sagst deiner Kleinen jetzt gleich noch Lebewohl. Es ist deine Entscheidung.«
»Das Mädchen gehört nicht nach Berlin, es gehört zu seinem Vater.«
»Zu dem es nicht einmal Papa sagen darf?«
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