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Schützenkönig

Schützenkönig

Titel: Schützenkönig Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Katrin Jäger
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zeugten.
    Marthas Haupt war noch immer gesenkt. Sie sprach mit der Tischdecke. Doch Viktoria hörte jedes Wort.
    Am Tag, als Bernhard Lütkehaus Schützenkönig von Westbevern wurde, am 16. Juni 1976, wurde er untreu. Seine Frau Martha wusste es, bevor er es wusste.
    Sie saß neben ihm. Der Schützenball tobte, die Musik spielte laut, die Trommeln bebten, Biergläser waren schneller leer als aufgefüllt. Martha lehnte zum dritten Mal ein Glas und einen Tanz ab, und Bernhard, König Bernhard I., wankte zur Theke. Da stand diese Frau. Klein, schwarzhaarig, aufreizend. Bei jedem Bier, das Bernhard sich holte, lächelte sie ihn an. Sie berührte seine Königskette, seine Hand, wenn sie ihm das Glas gab, sie strich sich durch die Haare. Martha zog sich ihre Strickjacke über, ihr war kalt.
    Bernhard gab es irgendwann auf, seine Frau nach einem Tanz zu fragen. Er blieb an der Theke stehen, redete mit seinen Freunden, trank ein paar Schnäpse. Es war nach zwei Uhr, das Festzelt war halb leer. Ein paar Betrunkene schliefen an den Tischen.
    Martha stand auf und ging zu ihrem Mann. »Ich mach mich nach Hause auf.«
    Bernhard schaute kurz. Seine Augen waren glasig. »Soll ich dich bringen?«
    »Nein, bin ja mit dem Rad schnell daheim. Feier du noch schön.« Ein kurzer, trockener Kuss, dann ging sie zu ihrem schwarzen Fahrrad. Sie wollte gerade aufsteigen, doch ihre Blase drückte, sie hatte den ganzen Abend Wasser getrunken. Das Bier hatte sie heimlich mit Wasser verdünnt, Schnäpse abgelehnt. Bloß nicht zu viel Alkohol. Sie hatte es Bernhard extra noch nicht gesagt, doch ihre Tage waren ausgeblieben. Es könnte also sein … Vielleicht, vielleicht. Es könnte klappen, dieses Mal. Das Wort Baby dachte sie nicht einmal. Aber Bier lieber doch nicht. Die Blase drückte unerträglich. Martha lehnte das Fahrrad wieder an den Baum und ging zum Toilettenwagen. Eine Tür war offen, Gott sei Dank. Sie raschelte mit dem Klopapier, wollte die Brille säubern, da spürte sie einen Schmerz im Unterleib. Sie krümmte sich, der Krampf löste sich. Sie spürte die volle Blase und setzte sich. Dann sah sie das Blut auf dem Klopapier und ihr Hals wurde ganz eng. Es schien, als vibrierte der Toilettenwagen, sie verlor das Gleichgewicht, ihr wurde schwarz vor Augen, doch sie fing sich wieder. Lehnte sich zurück. Atmete. Dann hörte sie ihn stöhnen. Sie konnte seine Schuhe durch den Schlitz zwischen den Kabinen sehen. Der Toilettenwagen vibrierte tatsächlich. Martha saß mit hochgerafftem Rock auf der mit Klopapier bedeckten Klobrille, Blut tropfte aus ihrem Unterleib. Sie schlug ihren Hinterkopf gegen die Holzwand – im gleichen Takt, in dem Schützenkönig Bernhard I. die Aushilfskellnerin Marie Latell zum Höhepunkt stieß.
    Viktoria war schlecht, sie wollte wegrennen. Doch sie blieb auf dem Holzstuhl in Marthas Küche sitzen und bewegte sich nicht. Ich bin zu Stein geworden, dachte sie. Ein dicker, schwerer Stein drückte auf ihren Magen, ihr Herz, ihre Stimmbänder. Sie konnte nichts tun, sich nicht rühren, nichts fragen. Dabei hätte sie es am liebsten herausgeschrien. »Was hat das alles mit mir zu tun? … Warum hat er sich erhängt?«
    Dabei wusste sie die Antwort. Tief in ihrer versteinerten Seele rührte sich die Wahrheit und würde sich einen Weg bahnen. Durch ihr Herz, durch ihren Magen, durch ihre Eingeweide und in ihre Augen. Da, sie sah es. Sie fühlte es. Sie wusste es: Sie war schuld. Mama war schuld an allem. Bernhard Lütkehaus, Bernie, Papa, er hatte es nicht ertragen, dass Marie Latell ihm die Tochter genommen hatte und mit ihr wegging aus Westbevern. Lieber wollte er an einem Baum hängen und sich vom Wind hin und her schaukeln lassen, als den Schmerz zu ertragen, sein Kind nicht mehr zu sehen. Der Felsen in Viktoria bekam Risse. Es bröckelte, es rutschte, ein Erdbeben tobte in ihrem Körper. Und endlich, endlich – weinte sie. Salzige, bittere Bäche, Flüsse, Seen, ein ganzes Meer von Tränen. Um ihn.
    Und um sich selbst.
    Bernhard Lütkehaus war überrollt worden von der Liebe. Nicht zu Marie, die er mochte, die er gerne anfasste und mit der er gerne schlief. Nein, seine Liebe galt dieser kleinen, süßen Kröte. Diesem Mädchen, das seine Tochter war – und es nicht sein durfte. Er hatte darauf bestanden, dass Marie es geheim hielt. Denn er wusste, dass seine Frau daran verrückt werden würde. Also war er für Viktoria nur Bernie und nicht Papa. Er selbst litt am meisten darunter. Auf seinen Verkaufstouren

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