Schuld war nur die Badewanne
griff ich den Vorschlag von gestern auf.
»Und was sollen wir da?«
Das wusste ich auch nicht so genau. »Mal nach Polen rübergucken!«
Sie bedachte mich mit einem Blick, den sie normalerweise für die dreijährige Tochter unserer Nachbarin reserviert hat. »Rübergucken???«
»Na ja, ich glaube nicht, dass es ausgerechnet hier eine Brücke gibt«, sagte ich zaghaft.
Sie schüttelte bloß den Kopf. »Was hast du denn davon, wenn du nach Polen rüberguckst?«
»Genaugenommen gar nichts, aber ich glaube, das kannst du nicht verstehen.«
»Tu ich auch nicht, aber wenn du unbedingt willst …«, gestattete sie gnädig, gab jedoch im nächsten Augenblick zu, dass ihr ohnehin nichts Besseres einfalle. »Die ganze DDR ist ziemlich öde.«
»Die DDR heißt nicht mehr DDR «, erinnerte ich sie.
»Na, wenn schon. Öde ist sie trotzdem!«
Wenn ich jetzt sage, dass wir die Oder beinahe nicht gefunden hätten, dann glaubt das niemand, aber es stimmt! Es gibt nämlich keine Wegweiser, und bei einer Straße, die sich plötzlich zu einer Art Feldweg verjüngt und nach ein paar hundert Metern ganz aufhört, kommen einem doch Zweifel, ob man sich nicht wieder mal verfahren hat. Das Einzige, was sich inmitten dieser unberührten Landschaft etwas artfremd ausnahm, war eine Art Hochstand, so eine Bretterbude mit Holzleiter, wie Jäger sie benutzen. Bisher hatte ich diese Häuschen immer nur an Waldrändern gesehen, aber hier gab es weit und breit keinen Baum, hinter dem sich ein Reh hätte verstecken können, nur ein paar Büsche auf den Wiesen und einen schmalen Weg, der sich mitten hindurchschlängelte.
»Ob das ein ehemaliger Wachtturm ist?«
»Wen oder was hätte man denn hier bewachen sollen?«, fragte ich zurück. »Höchstens die Karnickel.« Genau vor mir war ein verschreckter Hase durch das Gras geflüchtet.
»Mir kommt das hier alles ein bisschen unheimlich vor. Wollen wir nicht lieber umkehren?« Die Wagentür hatte Nicki noch nicht losgelassen, vielmehr umklammerte sie den Griff, als würde der ihr Schutz bieten.
So ganz geheuer war mir die Sache ja auch nicht, zumal wir offenbar die einzigen Menschen weit und breit waren. Andererseits – was sollte uns schon passieren? Es war heller Tag, die Sonne schien vom wolkenlos blauen Himmel, um uns herum zwitscherte, summte und zirpte es, und der Weg direkt vor uns war nicht etwa zugewuchert, sondern im Gegenteil von festgetretenen Fußspuren übersät. »Jetzt schließ endlich den Wagen ab und komm her!«, sagte ich zuversichtlicher, als mir zumute war. »Hier sind vor uns auch schon Menschen gewesen.«
»Du meinst,
nach
den Neandertalern?«
Zuerst wurde der Weg immer schmaler, dann verbreiterte er sich wieder, fiel ein bisschen ab, schlängelte sich noch um einige Büsche herum, und dann glitzerte es vor uns. Wir standen an der Oder – dem »entscheidenden Bollwerk gegen die sowjetische Armee«. Beim Anblick dieses so friedlich vor sich hinmurmelnden Wassers kamen mir die schwülstigen Naziparolen richtig lächerlich vor. Viel breiter hatte ich mir »Deutschlands Schicksalsfluss« vorgestellt. Das hier war doch nur ein Nebenfluss dritter Ordnung, den jedes Kind mit Freischwimmer-Zertifikat mühelos überqueren konnte. Ein Mittelding zwischen Rhein und Donau hatte ich erwartet und nicht dieses sanft strömende Gewässer, dessen schilfbewachsene Ufer von ein- bis zu vielbeinigen Tieren bevölkert waren, die ich nur noch aus Bilderbüchern kannte. (Das scheinbar einbeinige Viech hatte aber doch noch ein zweites gehabt, es war nämlich ein Storch im Ruhezustand gewesen.) Ob das, was über unseren Köpfen kreiste, zur Kategorie Falken gehörte oder – wie Nicki vermutete – ein Hühnerhabicht war, weiß ich nicht, wir haben uns nicht einigen können; jedenfalls war es etwas, das man hierzulande nur noch sehr selten sieht.
Von den Pflanzen will ich erst gar nicht reden. Höchstens noch ein altes Kräuterweiblein hätte sie klassifizieren können, und die sterben allmählich aus. Diese Wiesen waren seit Jahren nicht mehr gemäht worden, und sollte sie trotzdem mal jemand betreten haben, dann können das nur Grenzsoldaten gewesen sein, denn genaugenommen befanden wir uns ja im ehemaligen Niemandsland. War es das nicht immer noch? Da drüben, zwei Steinwürfe weit weg, begann Polen, man merkte es nur nicht. Das gegenüberliegende Ufer sah genauso unberührt aus, und den beiden Schwänen, die so majestätisch über den Fluss paddelten, war es bestimmt egal, auf
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