Schuldig wer vergisst
sie ermittelt hatten, und sie sollten beweisen können, dass sie selbst den unwahrscheinlichsten Möglichkeiten nachgegangen waren.
Und man wusste ja nie. Vielleicht irrte sich Cowley doch. Das hoffte Neville – zumindest hätten sie dann einen Ansatzpunkt, jemanden, den sie sich vornehmen konnten. Etwas Sinnvolleres zu tun, als nur Däumchen zu drehen, bis sie die Ergebnisse der DNA-Analyse vorliegen hatten.
Trotz der Ablenkungen schaffte es Callie, ihre Predigt fertig zu schreiben. Sie druckte sie aus, las sie noch einmal durch und führte mit Bleistift einige Korrekturen durch.
Zeit zum Abendessen, stellte sie fest, als sie Bella geduldig vor ihrem leeren Fressnapf sitzen sah. Callie füllte ihn, und Bella wedelte vor Dankbarkeit mit dem ganzen Körper, bevor sie sich auf die Mahlzeit stürzte.
Callie selbst hatte wenig Appetit, wusste aber, dass sie etwas essen musste. Im Kühlschrank fand sie noch ein paar Reste: eine halbe Portion Lasagne, ein bisschen Hühnchen, eine Tupperschüssel mit Suppe. Auch wenn sich nichts davon mit Marcos selbst gemachter Pasta messen konnte, musste es – mithilfe ihrer zuverlässigen Mikrowelle – genügen.
Sie aß unter Bellas aufmerksamem Blick am Küchentisch. Nachdem sie den Abwasch erledigt hatte, ging sie zurück ins Wohnzimmer.
Im Kamin lagen noch die Reste vom vorabendlichen Feuer; wäre Marco wie geplant heute hier gewesen, hätte er ihn ausgekehrt und ein neues Feuer in Gang gebracht. Aber auch wenn ihr in dem Raum mit der hohen Zimmerdecke kalt war, war es ihr heute einfach zu viel Aufwand. Stattdessen nahm sie die Wolldecke von der Sofalehne, wickelte sich darin ein und machte es sich vor dem Fernseher bequem.
Sie studierte die Programmzeitschrift und konnte nichts Interessantes finden. Seit wann, fragte sie sich, war das Fernsehprogramm am Samstagabend so öde geworden? Die hundert Besten von irgendwas, eine haarsträubend peinliche Reality-Show, eine Sendung mit untalentierten, jaulenden Teenagern und die Wiederholung eines alten Films, den sie schon beim ersten Anschauen nicht sonderlich gut gefunden hatte.
Bella sprang neben ihr aufs Sofa und schmiegte sich an sie. »Ach, Bella«, murmelte Callie, »was würde ich nur ohne dich machen?«
Callie hatte längst festgestellt, dass ihre schwarz-weiße Cockerspanielhündin eine wundervolle Zuhörerin war, und eine diskrete obendrein. Das war genau, was sie an diesem Abend brauchte. Ihr ging die Schottin einfach nicht aus dem Kopf. »Also, ich erzähl dir mal von Morag und ihrer Familie«, sagte sie und kraulte Bella hinter den Schlappohren.
Die Geschichte war, so wie Morag sie ihr erzählt hatte, faszinierend – wenn auch zugleich bedrückend. Und im Zentrum stand Angus, Morags einziges Kind.
Angus Hamilton war trotz aller Bemühungen seiner Eltern zu einem rechten Rabauken herangewachsen. Er hatte sich, so weit das in einer Stadt in den Highlands von Schottland überhaupt ging, mit einem ziemlich rüpelhaften Freundeskreis umgeben und war auch ein paarmal mit dem Gesetz in Konflikt geraten: Alkoholgenuss als Minderjähriger, Schlägereien, Sachbeschädigungen. Mit sechzehn hatte er die Schule
ohne Abschluss abgebrochen und schien drauf und dran, sein Leben zu vergeuden.
Natürlich bereitete das seinen Eltern einiges Kopfzerbrechen, vor allem angesichts der Position seines Vaters als einziger Arzt in der kleinen Stadt.
Dann geriet Angus in den Bann einer Frau, die einige Jahre älter war als er: Harriet Campbell, die Besitzerin des örtlichen Pubs. »Ich kann nicht gerade sagen, dass Donald und ich hoch beglückt darüber gewesen wären«, hatte Morag eingeräumt, »aber wir wurden eines Besseren belehrt.«
Harriet war Lehrerin. Tatsächlich hatte sie einige Jahre zuvor Gartenbridge verlassen, um in Edinburgh zu unterrichten. Als ihre Eltern, Gastwirte von Beruf, bei einem Unfall im Spanienurlaub tödlich verunglückten, kam sie aus einer Art Pflichtgefühl heraus in das Heimatstädtchen zurück, um das Familiengeschäft zu übernehmen.
Noch nie zuvor war der Pub so beliebt gewesen; die jungen Männer – und eine ganze Reihe der älteren ebenso – hingen an der Kneipe wie die Bienen am Honigtopf, und das nicht nur zum Trinken. Harriet Campbell war schön, lebendig, sexy. Der Traum eines jeden Mannes.
Doch Harriet hatte etwas in Angus gesehen – etwas, das niemand sonst bisher wahrgenommen hatte. Die Lehrerin in ihr erkannte seine schnelle Auffassungsgabe und sein Talent im Umgang mit Zahlen.
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