Schuldig wer vergisst
Sie sagte ihm auf den Kopf zu, dass er sein Leben verschwendete.
Anders, als es bei seinen Eltern der Fall gewesen war, hörte er auf sie. Mit ihrer Ermunterung und Unterstützung klemmte er sich hinter die Bücher und erwarb die Qualifikationen, über die er wenige Jahre zuvor noch die Nase gerümpft hatte. Dem Schulabschluss folgten Buchhaltungskurse für Fortgeschrittene.
Angus Hamilton verdankte Harriet Campbell, dass etwas aus ihm geworden war. Da hegte seine Mutter keinen Zweifel.
»Ohne sie«, hatte sie zu Callie gesagt, »wäre er immer noch in Gartenbridge. Oder wahrscheinlich sogar im Gefängnis. So unbändig war der Junge.«
Stattdessen arbeitete er jetzt als kaufmännischer Geschäftsführer einer großen Firma in der City von London. Verheiratet mit Jilly.
»Aber was ist bis dahin passiert?«, hatte Callie gefragt. »Und was ist mit Harriet?« Sie dachte an das auffällige Gesicht auf dem Foto: die kleine Alex, in der ihre Großmutter schon die Schönheit der Mutter erkannte. Nicht Jillys. »Dann ist Alex Harriets Tochter?«
Was als eine Art Mentor-Schüler-Beziehung begonnen hatte, entwickelte sich zu etwas Komplexerem. Es war passiert, als Angus noch unglaublich jung war, gerade erst neunzehn. Harriet, damals fünfundzwanzig, war schwanger geworden, und sie hatten überstürzt geheiratet.
»Donald und ich waren anfangs natürlich nicht gerade begeistert«, hatte Morag ihr erzählt. »Angus war noch so jung – wir dachten, er wird damit nicht fertig. Aber auch da lagen wir falsch. Eine eigene Familie zu haben, hat ihn erwachsen gemacht. Harriet und er waren so verliebt – sie himmelten sich gegenseitig an, und als dann Alex kam, waren sie eine sehr glückliche Familie.«
Als Callie an diesem Punkt von Morags Geschichte angelangt war, verlor Bella plötzlich das Interesse und wurde unruhig. Sie sprang vom Sofa und lief zu der Tür am oberen Treppenabsatz.
»Musst du mal raus?«, fragte Callie.
Bella wedelte mit dem Schwanz.
Das war der Nachteil dabei, sich einen Hund zu halten, wenn man im ersten Stock wohnte: Sie konnte nicht einfach die Tür aufmachen und Bella in den Garten rauslassen. Callie musste sich ihren Mantel anziehen und Bellas Leine holen. Sie hätte eigentlich aus den flauschigen Pantoffeln
schlüpfen und Schuhe anziehen sollen, aber sie hatte nicht vor, weit zu gehen.
Es war inzwischen sogar noch kälter geworden; Callies Atem bildete frostige Wölkchen. Leider machte sich Bella gar nichts aus der Kälte und ließ sich Zeit mit der Suche nach der richtigen Stelle für ihr Geschäft. »Nun mach schon«, sagte Callie und schlang fröstelnd die Arme um den Leib. Sie hatte keine Handschuhe angezogen, sodass sie zusätzlich zu den kalten Füßen in den Hausschuhen auch noch kalte Finger bekam. »Hi, Cal«, sagte eine Stimme in der Dunkelheit.
Callie fuhr zusammen, ihr Herz hämmerte. Sie wirbelte herum und zerrte an Bellas Leine.
Es gab nur einen einzigen Menschen, der sie Cal nannte.
Adam.
Es war alles andere als kalt im La Venezia. Mark schwitzte in der Küche, und selbst der Gastraum des Restaurants war von der schieren Körperwärme so vieler Menschen, die sich an den Tischen drängten, überhitzt. Doch niemand beklagte sich; dem Geräuschpegel nach zu urteilen, amüsierten sich alle bestens.
»Noch eine vom selben!« Ein Mann, dessen Gesicht von dem gerötet war, was er bereits konsumiert hatte, hielt Mark eine leere Weinflasche entgegen. Er trug die rote Pappkrone aus seinem Knallbonbon schief auf dem Kopf.
»Ja, Sir. Noch eine Flasche Hausmarke rot.«
»Bringen Sie am besten gleich zwei«, brüllte der Mann, »dann sparen Sie sich einen Weg. Ist ja noch früh am Abend.«
Mark warf einen Blick auf seine Armbanduhr. Leider hatte der Mann recht: gerade mal acht durch. Es war wirklich noch früh am Abend, und er fühlte sich bereits völlig erschöpft.
Kein Wunder, dass er sich aus dem Familienbetrieb verdrückt hatte und stattdessen zur Polizei gegangen war. Selbst die anstrengendste Polizeiarbeit war verglichen mit dem hier ein Kinderspiel.
Serena segelte an ihm vorbei, ein Tablett mit mehreren Tellern dampfender Ravioli balancierend – die Spezialität ihrer Mutter und eines der beliebtesten Gerichte des Hauses. Sie erwischte ihn bei einem Blick auf die Uhr und warf ihm über die Schulter hinweg ein Lächeln zu. »Kopf hoch, Marco, in ein paar Stunden hast du’s geschafft.«
»Was machst du denn hier?«, platzte Callie heraus. Ihr pochte das Herz
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