Schuldig wer vergisst
Tag gesehen. Während der Schulferien und an Samstagen, wenn Mum in ihrem Buchladen arbeitete, hatte sie praktisch bei Granny und Granddad gewohnt. Granny hatte ihr Essen gemacht, ihr Lieblings-Shortbread gebacken, ihr aus Büchern vorgelesen, ihr ein paar Melodien auf dem Klavier beigebracht, mit ihr Brettspiele gespielt, ihr erlaubt, Macduff auszuführen. Sie liebte ihre Granny.
Doch jedes Mal, wenn sie Grandma gegenüber Dad oder Jilly erwähnte, zuckten die nur die Achseln. »Granny hat zu tun«, sagten sie dann. »Jetzt, wo sie in London wohnt, hat sie nicht mehr so viel Zeit.«
Erst jetzt war ihr klar geworden, dass sie Granny ja einfach anrufen konnte.
Gestern, nach der Schule, hatte sie sich von der Auskunft ihre Nummer geben lassen. Sie war richtig aufgeregt gewesen, als sie versuchte, sie zu erreichen, doch leider hörte sie dann am anderen Ende nur die Ansage des Anrufbeantworters.
Im Moment nicht erreichbar. Hinterlassen Sie eine Nachricht.
Sie hatte eine Nachricht hinterlassen, aber Granny hatte nicht zurückgerufen.
Heute hatte sie sogar noch mehr Grund, mit ihrer Großmutter zu telefonieren.
In der Schule war es zu einer Begegnung mit ihren Stiefkusinen, der abscheulichen Beatrice und der nicht minder schrecklichen Georgina gekommen. Gewöhnlich schaffte sie es, ihnen aus dem Weg zu gehen, doch heute hatten die beiden sie kalt erwischt. Sie hatte im Speisesaal allein an einem Tisch gesessen und von Jack geträumt, als sie sich von hinten anschlichen.
Ihre Lieblingshänseleien drehten sich wie immer um ihre Mutter.
Es regte Alex auf und machte ihr gleichzeitig ein schlechtes Gewissen. Sie hatte so viel von Jack geträumt, dass sie weniger an ihre Mum gedacht hatte und daran, wie sehr sie ihr fehlte.
Konnte das wirklich stimmen, diese schrecklichen Dinge, die sie ihr über Mum erzählten? War ihre Mutter tot? Alex hatte zumindest keinen Beweis, dass sie am Leben war.
Granny, hatte sie sich gesagt, Granny musste es wissen. Granny würde ihr die Wahrheit sagen.
Diesmal hatte sie Glück: Ihre Großmutter meldete sich bereits beim zweiten Klingelton.
»Alex!«, sagte sie, und es klang sehr glücklich. »Wie geht es dir, Schätzchen? Ich hab mein liebes kleines Mädel ja eine Ewigkeit nicht mehr gesehen.«
Alex konnte nicht anders: »Ich hab dir gestern was auf Band gesprochen. Und du hast nicht zurückgerufen.«
»Aber natürlich habe ich das! Jilly hat gesagt, du wärst zu beschäftigt, um ans Telefon zu kommen.«
Dieser gemeine Verrat! Ein paar Sekunden verschlug es Alex vor lauter Hass auf Jilly und ihre ganze schreckliche Familie
die Sprache. »Sie ist eine Lügnerin! Jilly ist eine verdammte Lügnerin!«
Morag schwieg, und so fuhr Alex fort: »Granny, kann ich dich was fragen?«
»Aber natürlich.«
»Wegen meiner Mum.« Die Worte kamen fast schluchzend heraus. »Sag mir die Wahrheit. Ist meine Mum tot?«
»Tot?« Granny klang schockiert. »Aber Kleines, natürlich nicht.«
»Du würdest es mir ehrlich sagen, oder?«
»Ich würde es dir sagen«, versprach ihre Großmutter.
»Aber wieso hat sie mir dann nicht geschrieben?«, wollte Alex wissen. »Oder gemailt? Wieso kommt sie mich nicht besuchen? Oder sonst irgendwas? Mum liebt mich doch. Wenn sie wirklich am Leben ist, wie kann sie mich einfach so … so ignorieren? Wenn sie nicht tot ist, wo ist sie dann?«
»Ach Alex, Mädchen.« Es herrschte lange Schweigen, dann sagte Granny langsam, als wählte sie jedes Wort mit Bedacht: »Deine Mutter lebt. Aber es geht ihr nicht gut.«
»Liegt sie im Sterben?« Es kam wie ein Angstschrei heraus.
»Nein, nein. Ihr geht es … im Kopf nicht gut.« Granny holte tief Luft. »Du und dein Dad – na ja, ihr wart ihr ganzes Leben. Sie liebt euch beide so sehr. Und als sie euch verloren hat … ist sie einfach … nicht damit fertig geworden.«
»Willst du damit sagen, Mum ist verrückt?«, fragte Alex geradeheraus.
»Ihr geht es … nicht gut«, wiederholte ihre Großmutter. »Aber sie wird gut versorgt.«
»Dann ist sie in einem Irrenhaus.« Noch während Alex es aussprach, wusste sie, dass es stimmte. Welchen anderen Grund konnte es dafür geben, dass ihre Mum sich bei ihr nicht meldete?
»Natürlich nennen sie es nicht so. Es ist eine Art Privatklinik.«
Um Alex fing sich plötzlich alles an zu drehen. »Hast du sie besucht? Mit ihr geredet?«
Wieder trat eine lange Pause ein. »Ich hab’s versucht. Sie lassen keine Besucher zu ihr. Aber ich bin über ihren Zustand auf dem Laufenden.
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