Schuldig
sprachen Comics vor allem halbwüchsige Jungs an. Doch Daniel hatte Marvel ein anderes Konzept schmackhaft gemacht: eine Figur, die auf die Gruppe von Erwachsenen abzielte, die schon lange keine Comics mehr lasen, jetzt aber über die Kaufkraft verfügten, die ihnen als Jugendliche gefehlt hatte. Erwachsene, die von Michael Jordan angepriesene Sportschuhe trugen, die Nachrichtensendungen guckten, die wie MTV-Clips wirkten, und auf Geschäftsflügen mit einem Nintendo DS Tetris spielten. Erwachsene, die sich auf Anhieb mit Wildclaws Alter Ego Duncan identifizieren würden: einem Vater um die vierzig, der mit den Problemen des Ãlterwerdens zu kämpfen hatte, der seine Familie beschützen wollte und der von seinen Superkräften beherrscht wurde anstatt umgekehrt.
Der Comicroman erzählte von Duncan, einem ganz normalen Vater, der sich auf der Suche nach seiner vom Teufel entführten Tochter in Dantes Höllenkreise begab. Wenn Duncan durch Wut oder Angst provoziert wurde, verwandelte er sich in Wildclaw â wurde im wahrsten Sinne des Wortes zum Tier. Der Haken daran war, dass Macht stets auch einen fortschreitenden Verlust von Menschlichkeit mit sich brachte. Jedes Mal, wenn Duncan zum Falken oder Bär oder Wolf wurde, um einer gefährlichen Kreatur zu entkommen, blieb ein Teil von ihm tierisch. Seine gröÃte Angst war, dass seine Tochter, falls er sie je fand, ihn nicht wiedererkennen würde, weil er bei dem Versuch, sie zu retten, ein anderer geworden war.
Daniel blickte auf das, was er bislang zu Papier gebracht hatte, und seufzte. Die Schwierigkeit bestand nicht darin, den Falken zu zeichnen â das konnte er im Schlaf â, sondern den Betrachter den Menschen dahinter sehen zu lassen. Ein Held, der sich in ein Tier verwandelte, war nichts Neues â aber Daniel hatte sich dieses spezielle Konzept ehrlich erarbeitet. Man konnte sagen: Er hatte es »sich erlebt«. Er war als einziger weiÃer Junge in einem Eskimodorf in Alaska aufgewachsen, wo seine Mutter als Lehrerin arbeitete. Sein Vater war einfach verschwunden. In Akiak erzählten die Yupik unbefangen von Kindern, die mit Seehunden zusammenwohnten, von Männern, die ihr Haus mit Schwarzbären teilten. Von einer Frau, die einen Hund geheiratet und Welpen geboren hatte, doch als sie ihnen das Fell abzog, waren richtige Babys darunter. Tiere waren einfach nur nichtmenschliche Leute mit derselben Fähigkeit, bewusste Entscheidungen zu treffen, und unter ihrer Haut brodelte Menschlichkeit. Das zeigte sich in der Art, wie sie gemeinsam aÃen oder wie sie sich verliebten oder trauerten. Und umgekehrt galt das genauso: Manchmal stellte sich heraus, dass ein verborgenes Tier in einem Menschen steckte.
Daniels bester und einziger Freund im Dorf war ein Yupik-Junge namens Cane, von dessen GroÃvater Daniel das Jagen und Fischen und alles andere gelernt hatte, was ihm eigentlich sein richtiger Vater hätte beibringen sollen. Zum Beispiel, dass man still sein musste, nachdem man ein Kaninchen getötet hatte, damit der Geist des Tieres ungestört blieb. Dass man nach dem Fischen die Gräten der Lachse zurück in den Fluss gleiten lieà und dabei die Worte Ataam taikina flüsterte. Kommt wieder.
Fast seine ganze Kindheit hindurch hatte Daniel nur darauf gewartet, endlich fortgehen zu können. Als kassâaq , als weiÃes Kind, wurde er nämlich ständig gehänselt oder schikaniert oder verprügelt. Als er in Trixies Alter war, betrank er sich regelmäÃig und randalierte, tat alles, was nötig war, damit sich keiner mit ihm anlegte. Aber wenn er gerade nicht damit beschäftigt war, sich unbeliebt zu machen, zeichnete er â Figuren, die gegen alle Widrigkeiten kämpften und siegten. Figuren, die er heimlich auf die Ränder seiner Schulbücher malte und auf seine nackte Hand. Er zeichnete, um zu entfliehen, und schlieÃlich, als er siebzehn war, tat er es endlich.
Nachdem Daniel Akiak verlassen hatte, gab es für ihn kein Zurück mehr. Er lernte, auf den Einsatz seiner Fäuste zu verzichten und die Wut stattdessen auf ein Blatt Papier zu bringen. Er hatte erste Erfolge in der Comicbranche. Er sprach nie über sein Leben in Alaska, und Trixie und Laura fragten ihn lieber nicht danach. Er wurde ein typischer Kleinstadt-Dad, der die FuÃballmannschaft trainierte und Hamburger grillte und den Rasen mähte, ein Mann, bei dem keiner je vermuten würde,
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