Schuldig
eingezogen, und eigentlich sollte es nur eine Ãbergangslösung sein, für höchstens sechs Monate, doch nun wohnte er schon seit sechs Jahren dort. Er hatte sie nur spärlich möbliert â je ungemütlicher es war, desto schneller, so hatte Mike gedacht, würde er wieder ausziehen âmit einem Futonsofa, das er meist als Bett aufgeklappt lieÃ, einem Sitzsack und einem Fernseher, den er gelegentlich einfach angeschaltet lieÃ, damit Ernestine sich nicht so allein fühlte, wenn er arbeiten musste.
»Ernie?«, rief er, sobald er den Schlüssel im Schloss drehte. »Bin wieder da.«
Sie war nicht mehr auf dem Futonsofa, wo sie heute Morgen, als der Anruf kam, gelegen hatte. Mike zog sich die Krawatte aus und ging ins Bad. Und da lag die Mischlingshündin gähnend auf dem Wannenvorleger. »Hab ich dir gefehlt?«, fragte er.
Die Hündin erhob sich gemächlich und wedelte mit dem Schwanz.
»Ich bin nur nach Hause gekommen, um mit dir einen Spaziergang zu machen«, sagte Mike und kraulte sie hinter den Ohren.
Er hatte einen Haftbefehl in der Tasche â Trixies Aussage plus nachgewiesene Spermaspuren reichten aus, um Jason Underhill festzunehmen. Er wusste sogar, wer der Junge war, so wie jeder in der Stadt, der die sensationellen Erfolge der Highschool-Eishockeymannschaft verfolgte. Aber er hatte erst noch nach Hause gemusst, um Ernie rauszulassen. Zumindest redete er sich das ein.
Haben Sie Kinder? , hatte Daniel Stone gefragt.
Mike schaltete den Fernseher aus und setzte sich einen Moment hin. Dann ging er zu dem einzigen Schrank in der Wohnung und nahm einen Karton heraus.
In dem Karton war ein Kissen vom Bett seiner Tochter, das er in einen groÃen Beweismittelbeutel gesteckt hatte. Er öffnete den Ziplockverschluss und atmete tief ein. Ihr Geruch war schon fast verschwunden, trotz der Mühe, die er sich machte, ihn zu konservieren.
Plötzlich kam Ernestine angerannt. Ihre feuchte schwarze Nase schob sich in den Plastikbeutel mit dem Kissen, und Mike fragte sich, ob sie etwas witterte, das ihm entging. Die Hündin sah Mike an.
»Ich weië, sagte er. »Mir fehlt sie auch.«
Daniel saà in der Küche, vor sich auf dem Tisch eine Flasche Sherry. Er mochte keinen Sherry, aber es war im Augenblick das einzige alkoholische Getränk im Haus. Laura peppte ihr berühmtes Wok-Hühnchen gern mit einem Schuss davon auf. Er hatte schon die halbe Flasche intus, und es war eine groÃe Flasche, aber er fühlte sich nicht betrunken. Er fühlte sich nur wie ein Versager.
Vaterschaft war das Fundament, auf dem Daniel sich selbst neu definiert hatte. Wenn er daran dachte, Vater zu sein, sah er eine Babyhand, die sich wie ein Stern auf seine Brust drückte. Und da es ihm nicht gelungen war, seine Tochter zu beschützen, drängte sich ihm die Frage auf, wie er sich so lange in dem trügerischen Glauben hatte wiegen können, wirklich ein anderer geworden zu sein.
Er konnte sich nichts mehr vormachen. Der Teil von ihm, von dem er gedacht hatte, er hätte ihn ausgetrieben, war nur notdürftig in dem flachen Grab verscharrt gewesen, in dem alte Persönlichkeiten entsorgt wurden. Jetzt, wo der Sherry ihm den Weg leuchtete, konnte Daniel das sehen. Er spürte, wie sich die Wut in ihm anstaute wie Dampf.
Der neue Daniel, Daniel der Vater , hatte die Fragen des Detective beantwortet und sich darauf verlassen, dass die Polizei tat, wozu sie da war. Aber der alte Daniel ⦠nein, der hätte sich niemals darauf verlassen, dass ein anderer eine Aufgabe erledigt, für die eigentlich er zuständig war. Er hätte sich mit Klauen und Zähnen gerächt.
Wie er das schon oft getan hatte.
Daniel stand auf und zog gerade seine Jacke an, als Laura in die Küche kam. Sie sah die Flasche Sherry auf dem Tisch, dann blickte sie ihn an. »Du trinkst nicht.«
Daniel starrte sie an. »Das war mal.«
»Wo willst du hin?«
Er antwortete nicht. Er schuldete ihr keine Erklärung. Er schuldete niemandem irgendwas. Es ging nicht um Bezahlung, es ging um Abrechnung.
Daniel öffnete die Haustür und lief zu seinem Pick-up. Jason Underhill müsste jetzt in der Eishalle sein und sich für das Samstagnachmittagspiel umziehen.
Weil Trixie sie darum gebeten hatte, wartete Laura, bis sie eingeschlafen war. Als sie herunterkam, sah sie Daniel gerade aus dem Haus gehen. Er musste ihr nicht sagen, wohin er wollte.
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