Schuldig

Laura wusste nicht mal, ob sie versucht hätte, ihn aufzuhalten.
    Biblische Rache übte man nicht mehr, das hatte sie zumindest gelernt. Man durfte einem Dieb nicht die Hand abhacken. Man durfte einen Mörder nicht zu Tode steinigen. Eine höher entwickelte Gesellschaft sorgte im Gerichtssaal für Gerechtigkeit – und dieses Prinzip hatte Laura bis vor fünf Stunden noch befürwortet. Ein Prozess mochte zivilisierter sein, aber er konnte einem niemals so viel emotionale Befriedigung verschaffen.
    Sie versuchte, sich vorzustellen, was Daniel mit Jason machen würde, falls er ihn fand, aber es gelang ihr nicht. Daniel war bereits seit so Langem die Ruhe und Sanftheit in Person, dass sie den Schatten, der früher an ihm haftete, schon ganz vergessen hatte.
    Laura setzte sich hin und versuchte, ein Buch zu lesen, las aber jeden Satz viermal hintereinander. Sie schaltete den Fernseher ein, doch der Sitcom-Humor aus der Konserve plätscherte an ihr vorbei.
    Kurz darauf saß sie vor dem Computer und gab bei Google das Wort Vergewaltigung ein. Sie erhielt mehr als eine Million Treffer, und schlagartig fühlte Laura sich etwas besser: Sie war nicht die einzige Mutter, die so etwas durchmachte; Trixie war nicht das einzige Opfer. Die Webseiten zerrten dieses gottverfluchte Wort und all die erdrückenden Nachwehen ans Licht.
    Sechsundsechzig Prozent der Opfer kennen ihren Vergewaltiger. Achtundvierzig Prozent werden von einem Freund vergewaltigt. Zwanzig Prozent aller Vergewaltigungen geschehen zu Hause bei einem Freund, Nachbarn oder Verwandten. Über die Hälfte geschieht im Umkreis von höchstens einer Meile vom Zuhause des Opfers. Achtzig Prozent aller Opfer sind unter dreißig. Bei Mädchen zwischen sechzehn und neunzehn liegt das Risiko einer Vergewaltigung viermal höher als beim Rest der Bevölkerung. Einundsechzig Prozent aller Vergewaltigungen kommen nicht zur Anzeige. Bei einer angezeigten Vergewaltigung liegt die Wahrscheinlichkeit einer Festnahme bei 50,8 Prozent. Bei achtzig von hundert erfolgten Festnahmen wird Anklage erhoben. Bei einer erhobenen Anklage beträgt die Wahrscheinlichkeit einer Verurteilung achtundfünfzig Prozent. Im Fall einer Verurteilung besteht eine Chance von neunundsechzig Prozent, dass der Vergewaltiger tatsächlich ins Gefängnis muss. Bei den neununddreißig Prozent aller Vergewaltigungen, die überhaupt angezeigt werden, wandert der Vergewaltiger in 16,3 Prozent der Fälle ins Gefängnis. Berücksichtigt man noch dazu all die nicht angezeigten Vergewaltigungen, dann gehen etwa vierundneunzig Prozent der Vergewaltiger straffrei aus.

    Daniel musste ein gutes Stück vom Eingang der Eishalle entfernt parken, was an einem Samstagnachmittag nicht verwunderlich war. In Bethel, Maine, lockten die Eishockeyspiele des Highschoolteams immer ein großes Publikum an. Daniel ging durch die Menschenmenge, als wäre er unsichtbar, starrte blicklos die stolzen Eltern und aufgeregten Schüler an, die gekommen waren, um die Helden ihrer Heimatstadt anzufeuern. Er folgte dem Menschenstrom durch die Doppeltür, die in die eigentliche Eishalle führte. Er hatte keinen richtigen Plan. Er wollte nur Jason Underhill unter seinen Fäusten spüren, ihn mit dem Kopf gegen die Wand schlagen, zur Reue zwingen.
    Daniel wollte schon die Umkleidekabine der Heimmannschaft betreten, als die Tür sich wie von allein öffnete. Rasch drückte Daniel sich gegen die Wand und sah, wie Detective Bartholemew mit Jason Underhill herauskam. Der Junge trug noch sein Eishockeytrikot und ging auf Strümpfen, die Schlittschuhe in einer Hand. Er war rot im Gesicht und starrte die Gummimatten auf dem Boden an. Der Trainer folgte ihnen auf den Fersen und schrie: »Wenn Sie sich bloß mit ihm unterhalten wollen, hätten Sie auch bis nach dem Spiel warten können, verdammt noch mal!«
    Die Zuschauer auf den Rängen, die mitbekamen, dass Jason abgeführt wurde, blickten ratlos, weil sie nicht verstanden, was los war. Ein Mann, vermutlich Jasons Vater, drängelte sich nach unten und rannte zu seinem Sohn.
    Daniel blieb einen Moment ganz ruhig stehen, überzeugt, dass Bartholemew ihn nicht entdeckt hatte, bis der Detective sich auf einmal umdrehte und ihm direkt in die Augen sah. Inzwischen ging ein aufgeregtes Raunen durchs Publikum. Die Luft um Daniels Ohren dröhnte wie eine Kesselpauke – aber in dieser einen Sekunde befanden sich