Schuldig
einen Meter fünfzig groà und hatte die zarten Gesichtszüge eines Kindes, doch Mike Bartholemew hatte sie bereits manches Mal mit beiden Armen bis zum Ellbogen im Bauch eines Toten gesehen, der auf ihrem Untersuchungstisch lag.
»Der junge Mann hatte einen Blutalkohol von 1,2 Promille«, sagte Anjali, während sie einige Röntgenaufnahmen durchsah und zu dem Leuchtkasten an der Wand ging.
Jason Underhill war also ziemlich betrunken gewesen, als er über das Brückengeländer sprang. Wenigstens ist er nicht Auto gefahren , dachte Bartholemew. Wenigstens hat er nur sich selbst umgebracht.
»Da«, sagte Dr. Mukherjee und zeigte auf eine Röntgenaufnahme. »Was siehst du da?«
»Einen Fu�«
»Ganz genau. Und was passiert mit einem Fuà bei einem Sprung in die Tiefe?«
»Keine schöne Vorstellung.«
»Allerdings. Die meisten Menschen landen nach einem Sprung auf den FüÃen. Bei solchen Selbstmorden zeigen die Röntgenaufnahmen dann Fersenfrakturen und vertikale Stauchungen des Rückgrats, was ich beides bei diesem Opfer aber nicht feststellen konnte.«
»Soll das heiÃen, er ist gar nicht gefallen?«
»Doch, doch, er ist gefallen. Das Gehirn zeigt die typische Contrecoup-Verletzung, die auf starke Beschleunigung hindeutet.«
»Vielleicht ist er gesprungen und auf dem Kopf gelandet«, schlug Bartholemew vor.
»Interessanterweise konnte ich auch keine Frakturen feststellen, die damit übereinstimmen würden. Aber ich zeig dir mal, was ich gefunden hab.« Anjali reichte ihm zwei Fotos von Jason Underhills Gesicht. Sie waren identisch, nur dass der Junge auf dem zweiten ein blaues Auge und Blutergüsse an Schläfe und Unterkiefer hatte.
»Hat deinen Patienten hier unten irgendwer zusammengeschlagen, Angie?«
»Das geht nur prämortal«, entgegnete Anjali. »Ich hab die Aufnahmen im Abstand von zehn Stunden gemacht. Als ihr ihn angeliefert habt, hatte er keine Blutergüsse ⦠nur die leichte Blutung im Gesichtsbereich, die durch den Sturz verursacht worden sein könnte. Aber als er gefunden wurde, war diese Seite seines Gesichts unten, und die Blutansammlung könnte die Kontusionen verdeckt haben. Als wir ihn dann auf den Rücken gelegt haben, hat sich das Blut neu verteilt.« Sie nahm eine Röntgenaufnahme und klemmte sie an den Leuchtkasten. »Wir hatten vor Jahren mal einen Fall, eine unbekannte Tote, die bis auf einen leichten Bluterguss in der Halsmuskulatur ohne sichtbare äuÃere Verletzungen eingeliefert wurde. Nach der Obduktion konnte man zwei deutliche Handabdrücke an ihrer Kehle erkennen.«
»Die Verletzungen könnten doch von dem Sturz stammen.«
»Aber sieh dir das mal an.« Anjali zeigte auf das Röntgenbild.
Bartholemew stieà einen leisen Pfiff aus. »Das ist sein Gesicht, nicht?«
»Das war sein Gesicht.«
Er deutete auf einen Riss im Schläfenknochen des Schädels. »Das sieht wie eine Fraktur aus.«
»Da ist er aufgeschlagen«, sagte Anjali. »Aber sieh mal genauer hin.«
Bartholemew blinzelte. Auf Wangen- und Kieferknochen waren dünnere, schwächere Haarrisse zu sehen.
»Bei einem Schlag mit anschlieÃendem Sturz werden die durch den Sturz hervorgerufenen Bruchlinien durch die des vorausgegangenen Schlages blockiert. Eine Kopfverletzung durch Sturz liegt normalerweise in Höhe einer imaginären Hutkrempe. Und ein harter Schlag ins Gesicht trifft normalerweise tiefer.«
Die Fraktur in Underhills Schläfe verlief Richtung Augenhöhle und Wangenknochen, endete aber unvermittelt an einem dieser Haarrisse.
»Wir haben auÃerdem die Extravasation von roten Blutkörperchen im Gewebe um Kiefer und Rippen festgestellt. Ein Bluterguss, zu dem es nicht mehr gekommen ist. Das heiÃt, dass das Gewebe verletzt wurde, doch ehe das Blut sich zersetzen und grün und blau werden konnte, ist der Junge gestorben.«
»Dann hatte er vielleicht eine Schlägerei, ehe er beschloss, sich umzubringen«, sagte Bartholemew nachdenklich.
»Das hier könnte dich auch noch interessieren.« Anjali gab ihm einen Objektträger für ein Mikroskop mit winzigen Spänen darauf. »Die haben wir unter den Fingernägeln des Toten gefunden.«
»Was ist das?«
»Splitter vom Holz des Brückengeländers. Auch in seinen JackenschöÃen steckten ein paar Splitter.« Anjali warf
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