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Schuldig

Schuldig

Titel: Schuldig Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jodi Picoult
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Tochter, dass Gewalt in einem Mann wie Energie war, die umgewandelt, aber nie ausgelöscht werden konnte? Wie erklärte man einem Mädchen, dass man mit aller Kraft einen Neuanfang versuchen wollte, dass man seine Vergangenheit niemals loswurde?
    Es war ein bitterkalter Tag. Die Eiszapfen vor dem Küchenfenster sahen aus wie messerscharfe Speerspitzen. Als ihr Vater hereinkam, stand Trixie am offenen Kühlschrank. Sie trug eine Pyjamahose, eines seiner T-Shirts und einen blauen Bademantel, der ihr nicht mehr passte. Als sie den Arm ausstreckte, um eine Flasche Orangensaft herauszunehmen, rutschte ihr der Ärmel fast bis zum Ellbogen hoch.
    Laura blickte vom Tisch auf, wo sie intensiv die Zeitung studierte – vermutlich auf der Suche nach einem Artikel über Daniels Prügelei mit Jason. »Morgen«, sagte Daniel unsicher. Ihre Blicke trafen sich für einen Augenblick.
    Daniel räusperte sich. »Trixie … ich muss mit dir reden.«
    Trixie sah ihn nicht an. Sie goss sich etwas Orangensaft in ein Glas. »Wir brauchen frischen O-Saft«, sagte sie.
    Das Telefon klingelte. Laura stand auf, nahm den Hörer ab und ging damit nach nebenan ins Wohnzimmer.
    Daniel ließ sich auf Lauras Stuhl sinken und betrachtete Trixie, die jetzt an der Küchentheke stand. Er liebte sie, und dafür vertraute sie ihm – und zur Belohnung hatte sie mit ansehen müssen, wie er sich vor ihren Augen in ein Tier verwandelte. Grund genug für Daniel, sich selbst zu hassen.
    Laura kam zurück in die Küche und legte den Hörer auf. Sie bewegte sich steif, und ihre Miene war wie erstarrt.
    Â»Wer war dran?«, fragte Daniel.
    Laura schüttelte den Kopf und legte eine Hand vor den Mund.
    Â»Laura«, drängte er.
    Â»Jason Underhill hat sich letzte Nacht umgebracht«, flüsterte sie.
    Trixie schüttelte die leere Plastikflasche. »Wir brauchen frischen O-Saft«, wiederholte sie.

    Trixie ließ das warme Wasser minutenlang laufen, ehe sie in die Dusche stieg, damit der kleine Raum so voller Dampf war, dass sie sich nicht mehr im Spiegel sehen musste. Die Nachricht hatte sich im Haus eingenistet, und jetzt schien keiner zu wissen, was sie damit machen sollten. Ihre Mutter war wie ein Gespenst aus der Küche geschlichen. Ihr Vater hatte sich langsam wieder an den Tisch gesetzt, den Kopf in den Händen. Vor lauter Bestürzung hatte er gar nicht gemerkt, wie Trixie aus dem Raum ging. Keiner von beiden sah sie ins Badezimmer gehen oder bat sie, die Tür weit auf zu lassen, wie sie das in den letzten Wochen getan hatten, um sie im Auge zu behalten.
    Wozu auch?
    Es würde keinen Vergewaltigungsprozess mehr geben. Sie mussten nicht länger dafür sorgen, dass sie nicht in der Irrenanstalt landete, ehe sie in den Zeugenstand gerufen wurde. Sie konnte so verrückt werden, wie sie nur wollte. Sie konnte sich für die nächsten dreißig Jahre in die Psychiatrie einweisen lassen und jede einzelne Minute davon darüber nachdenken, was sie getan hatte.
    Ein Bic-Rasierer war noch da. Er war hinter das Schränkchen unter dem Waschbecken gefallen, und Trixie hatte ihn dort liegen lassen, nur für Notfälle. Jetzt angelte sie ihn hervor und legte ihn auf die Ablage. Sie schlug mit einer Flasche Duschgel auf das rosa Gehäuse, bis es zersprang und die Klinge herausrutschte. Sie fuhr mit der Fingerspitze über die Schneide, spürte ihre Haut aufspringen wie eine Zwiebelschale.
    Sie dachte daran, wie es sich angefühlt hatte, wenn Jason sie küsste und sie die Luft einatmete, die er kurz zuvor eingeatmet hatte. Sie versuchte, sich vorzustellen, wie es wohl war, nicht mehr zu atmen, nie mehr. Sie dachte daran, wie sein Kopf nach hinten geflogen war, als ihr Vater ihn schlug, an die letzten Worte, die er zu ihr gesagt hatte.
    Trixie zog ihren Pyjama aus und stieg in die Dusche. Sie hockte sich hin und ließ sich das Wasser über den Rücken strömen. Sie schluchzte heftig, was beim Prasseln des Wassers niemand hören konnte, und sie ritzte sich den Arm auf, um etwas von dem Schmerz abzuleiten, ehe er in ihr zerbarst. Sie schnitt verwinkelte Linien in ihre Haut, und zusammen ergaben sie ein Wort: NEIN.
    Blut wirbelte ihr in rosa Kreiseln um die Füße. Sie starrte auf die Schrift auf ihrem Arm. Dann hob sie die Klinge und zerfetzte die Buchstaben, legte ein Gitter aus Schnitten darüber, bis nicht einmal mehr Trixie selbst sich erinnern

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