Schuldlos ohne Schuld
keinen Grund, eine Neufestsetzung zu beschließen.«
Der Bescheid war unwiderruflich. Das wollte sie sagen, und die Entscheidung war schon im Voraus getroffen.
Martin begriff. Langsam und nicht ohne Würde erhob er sich zu seiner ganzen ansehnlichen Größe. Einige Sekunden stand er ruhig da. Ein Riese, in Stein gehauen. Dann macht er einen Schritt nach vorn, beugte sich über den Tisch und sah der Staatsanwältin gerade in die Augen. Auch der Assistent erhob sich.
Hass lag in Martins grobem Gesicht. Es wirkte brutal, und die starren Augen schienen aus ihren Höhlen zu fallen. Die Staatsanwältin bekam Angst, und ihr bleichsüchtiger Mund verwandelte sich in einen Strich. Martin sah, dass sie zitterte. Es gab also eine Gegenwaffe. Er hatte in ihr eine Angst zum Leben erweckt, die dort immer gelauert hatte. Die Macht und die Handlanger der Macht sind sich des Hasses bewusst, den sie säen, und sie wundern sich unaufhörlich darüber, dass sich die Geschlagenen nicht zusammentun, um Rache zu nehmen. Das gibt es nicht, sagen manche. Das ist nicht richtig. Es kann überall geschehen. Die Frage ist nur, wann.
Ohne ein weiteres Wort, doch mit einem schwer zu deutenden Lächeln auf den Lippen verließ Martin die Staatsanwältin und ihren Assistenten. Er sah sich nicht einmal um, als er aus dem Zimmer ging. Das Schweigen hinter ihm war aussagekräftig genug.
Das Bild rechts stellt die Richterin dar, und das links ist die Staatsanwältin. Wen soll er zuerst erschießen? Martin hat den Revolver geladen und das Fenster hinter den Fotografien geöffnet. Das eine davon ist übrigens ein Bild der Tante. Ein Strom herbstlich kalter Luft dringt zu ihm; er sitzt in einem Lehnstuhl und spielt mit der Waffe. Der Luftzug bewegt die Fotos, und plötzlich fällt eines von ihnen vom Fensterbrett herab. Das entscheidet die Sache.
Boooaanng … ng … g …
Der Knall ist gewaltig, viel schlimmer als im Freien, und Martin meint, dass das ganze Zimmer nachwackelt. Das andere Foto ist vom Fenster verschwunden. Er muss getroffen haben.
Es sticht Martin in der Nase, und er hat Tränen in den Augen. Er ist sicher, das ganze Haus aufgeweckt zu haben, und zittert am ganzen Körper. Die Uhr zeigt drei in der Nacht, und er schaltet eilig alle Lichter in der Wohnung aus. Dann stellt er sich hinter die Gardine und mustert die Umgebung. Keine einzige Lampe wird eingeschaltet. Alle Fenster bleiben dunkel und undurchdringlich, aber vielleicht steht jemand so wie er da und drückt im Schutz der Dunkelheit ab.
Martin fragt sich, wohin der Schuss gegangen ist. Irgendwo muss die Kugel eingeschlagen haben. Er versucht, die Flugbahn zu berechnen und glaubt, den Schornstein gegenüber getroffen zu haben. Das beruhigt ihn ein wenig. Nach einer Weile schleicht er zur Wohnungstür und öffnet sie vorsichtig einen Spalt. Man hört nichts im Treppenhaus, und beim Nachbarn gegenüber ist es ruhig. Das einzige Geräusch, das er hören kann, kommt von seinem eigenen Kühlschrank, der hartnäckig weiterbrummt.
Vielleicht ist es trotzdem gut gegangen. Auch wenn sie aufgewacht wären, hätten sie nichts begriffen. In einer Stadt gibt es so viele nächtliche Geräusche, dass sich niemand lange Gedanken macht, sondern sich im Bett umdreht und wieder einschläft. Es kann eine Alarmanlage sein, die zu heulen beginnt, oder das Dröhnen eines kaputten Auspuffs, das an eine Explosion erinnert, oder junge Leute, die im Freien mit Krachern spielen. Wenn sich der Lärm nicht wiederholt, kümmert sich niemand darum.
Martin nimmt die Kugeln aus dem Revolver. Er hat es gewagt, dass Licht wieder einzuschalten. Dann packt er die Waffe in den Schuhkarton und schiebt ihn ganz hinten in den Putzschrank. Dort ist der Revolver zu Hause. Martin hat sich sehr verantwortungsvoll verhalten und verspürt keine Freude nach dem Schießen. Es gibt keinen Ersatz für Rache. So etwas ist primitiv und kindisch. Auch wenn er gern mehr über die Schwarze Magie erfahren möchte, weiß er, dass sich Sitten von Naturvölkern nicht so einfach übertragen lassen. Bevor sich Martin hinlegt, schließt er das Fenster und hebt das Foto vom Boden auf. Es ist das Bild der Tante.
Er schläft fast sofort ein, aber es ist ein unruhiger Schlaf, und er träumt von einem ihm unbekannten Gesicht, das die ganze Zeit ausweicht und ihn frech anlacht, wenn er versucht, ein Messer hinein zu stechen.
Zwei Stunden später wacht er mit einem Ruck auf. Das andere Foto. Es muss unten im Hof liegen und ein
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