Schuldlos ohne Schuld
Zurechtweisung.
Sie antwortet nicht, sondern zieht sich mit einem enttäuschten Stirnrunzeln von ihm zurück, und er denkt, dass sie in sich zusammensinkt. Als sie die Hände auf den Tisch legt, sieht er, dass sie schwarze Ränder unter den Nägeln hat.
»Du verstehst«, sagt sie, bevor das Schweigen zu drückend wird, mit einer Stimme, die im Hals stecken bleibt. »Ich sitze in einer richtigen Klemme. Mein Freund hat mich verlassen. Er hat meine Handtasche und mein ganzes Geld mitgenommen.«
Kann das wirklich wahr sein? Martin glaubt nicht mehr an all die Märchen, die er hört. Die Wahrheit ist, dass er selbst immer öfter lügt, bewusst und ohne sich vor sich selbst zu schämen. Gleichzeitig misstraut er allen anderen. Das meiste auf der Welt ist ja nichts als Lüge.
»Er war im Übrigen nicht viel wert«, fügt die Frau trocken und ohne Bedauern über den Verlust hinzu.
Freund? Martin lächelt etwas schief. So kann man das natürlich auch ausdrücken. Wenn er überhaupt existiert hat. Freund oder Zuhälter? In ihrem Fall kommt das auf dasselbe hinaus.
Martin mustert sie etwas verstohlen und eingehender als vorher. Er bemerkt die nervösen Zuckungen ihrer Mundwinkel und die flackernden, starren Augen. Jetzt erst begreift er, dass sie high ist.
Der Libanese kommt mit dem Cognac, und Martin bezahlt die Rechnung. Die Frau glaubt, eine gewisse Dankbarkeit zeigen zu müssen und hebt lässig das Glas zu einem Prosit. Dann leert sie es in einem Zug. Etwas später rückt sie näher zu Martin und drückt sich an ihn, während sie gleichzeitig den Arm um seinen Hals legt, obwohl er sich wehrt.
»So«, sagt sie mit befriedigtem Schnaufen. »Jetzt fühl ich mich besser. Viel besser.«
Die Berührung ist deutlich zu spüren, aber nicht unangenehm. Trotzdem fühlt sich Martin unsicher und belästigt. Über dem blonden, stark nach Rauch riechenden Haar, das auf seine Schulter fällt, sieht er in die Augen einer anderen Frau hinter der Fensterscheibe. Es liegen nicht mehr als einige Meter zwischen ihnen. Im lüsternden Blick dieser anderen Frau ist auch etwas Raubtierhaftes. Sie hat die Lippen weit offen, und die weiße, gleichmäßige Zahnreihe ist zum Biss bereit. Die Augen glänzen unter der Mascara. Als sie Martins Blick bemerkt, verwandelt sie sich schnell, zieht den Mund zusammen und wendet sich dann mit einer verächtlichen Geste vom Fenster ab.
Es rüttelt am Baldachin, und eisige Regentropfen fallen auf Martins Wange. Die Realität drängt sich auf, und er setzt sich nicht zur Wehr. Plötzlich sieht er sich selbst und die Frau neben sich mit den Augen der anderen. Er sieht ein verkommenes Paar, das aus der Gemeinschaft in den ungastlichen Straßenbereich verwiesen worden ist und nur der Missachtung wert erscheint. Martin fühlt sich schäbig, und die unterdrückte Wut in ihm wird wieder wach.
Die Frau spürt, dass er zittert, missversteht ihn aber und glaubt, dass ihr Körper ihn erregt. Erfahren, jedoch nicht ohne Wärme drückt sie sich noch enger an ihn. Sie bewegt die Lippen, spricht aber stumm mit sich selbst. Vielleicht gibt es trotzdem eine Rettung. Die Glut in ihr beginnt zu verglimmen, und sie ist sich bewusst, dass die Frist bald vorüber ist. Wenn sie sich nicht sofort Geld beschaffen kann und dann schnell in die Innenstadt fährt, wird die gierige, abscheuliche Leere mit all ihrer vernichtenden Schwere über sie herfallen, wie ein Würgegriff, der sie in einen jämmerlich schreienden Teufel verwandelt.
»Dreihundert Kronen«, flüstert sie, packt Martins Hand und schiebt sie zwischen ihre halbnackten Schenkel.
»Das ist ein echter Sonderpreis. Wir können es in deinem Auto machen.«
Martin besitzt kein Auto, und er hat nie eine Frau gehabt. Er hat sie mit dem Auto und seinen Erfahrungen angelogen.
»Ich brauche nicht für meine Frauen zu bezahlen«, antwortet er überlegen lachend.
Sie ist nicht so dumm, um zu bemerken, dass da etwas nicht stimmt. Das Lachen klingt unecht, und die Hand, die immer noch zwischen ihren Schenkeln liegt, wirkt rastlos und verlassen. Es ist, als wage sie nicht, etwas zu unternehmen. Die Frau weiß nicht recht, was sie glauben soll, und Hoffnungslosigkeit beschleicht sie.
»Zweihundert«, sagt sie, und es liegt Verzweiflung in ihrer Stimme. »Das ist doch fast nichts. Wie soll ich zum Teufel sonst in die Stadt kommen?«
Da zerbricht alles für Martin, er zieht seine Hand zurück und schiebt die Frau von sich weg.
»Verdammt Hure!«, brüllt er mit Donnerstimme.
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