Schuldlos ohne Schuld
»Hau ab!«
Er erhebt sich, zieht sie mit einem Bärengriff vom Stuhl und trägt sie mehr als dass er sie auf die Straße hinausschiebt. Wild schreiend, mit klappernden Schuhen und einem Rock, der nicht einmal halbwegs bis zu den Knien reicht, stolpert sie im schwachen Straßenlicht fort, während der Regen immer schwerer fällt.
Die beiden Libanesen stehen in der Türöffnung. Der Vater vorn. Hinter ihnen erscheinen einige gierige, schaulüsterne Gesichter. Alle schweigen. Martin geht an ihnen vorbei, mit einem Gesicht, das zu Eis erstarrt ist, und verlässt die Gaststätte, ohne sich ein einziges Mal umzudrehen. Er wird niemals wiederkommen. Jetzt ist er auf dem Heimweg. Die Wut hat sich gelegt, aber er hat wieder angefangen, laut mit sich selbst zu sprechen.
10
Martin hat zwei Fotografien auf das Fensterbrett gestellt. Das Bild rechts soll den Richter darstellen, das links den Staatsanwalt. Beide sind, wie auch in Wirklichkeit, Frauen. Die Richterin lächelt ihr tantenhaft mildes Lächeln, aber das hat keine Wirkung auf Martin. Er hat sie durchschaut, und er weiß, dass sie genießt. Es ist die Macht, die sie kitzelt, und als sie endlich das Urteil verkünden soll, schließt sie zuerst die Augen und öffnet die Lippen, als wolle sie für alle Zeit diesen wollüstigen Augenblick festhalten.
Welch ein vollkommener Genuss muss das sein, auf dem erhöhten Platz des Richters zu sitzen und seine Mitmenschen zu bestrafen, geachtet und verehrt von allen und mit dem allmächtigen Gesetz im Rücken. Man sagt, dass die Gerechtigkeit blind ist, aber auch das ist gelogen. Sie schaut zwischen den Fingern hindurch, um zu sehen, mit welcher Art von Mensch sie es zu tun hat. Alle wissen, dass es einen Unterschied gibt zwischen dem einen und dem anderen, auch wenn man das nicht laut sagen darf. Die Gerechtigkeit ist ebenso klassengebunden wie alles andere. Die Unterklasse kann niemals mit Verständnis oder Freispruch rechnen, und am allerwenigsten mit Gnade. Der Strolch, der Pöbel, das Pack, die Vandalen, die Hooligans, die Terroristen, die Alkoholiker und sogar die ganze breite Masse werden nie vor Gericht gestellt, ohne bereits schuldig zu sein.
Die Sprache ist voll von herabsetzenden, vagen Urteilen, die wehrlose Männer und Frauen bündelt, Unschuldige genauso wie Schuldige. Sie werden nie als gleichwertige Individuen angesehen und sind deshalb immer im Voraus verurteilt. Einen Freispruch vor einem Gericht oder zumindest eine Begnadigung kann nur der erwarten, der gleichen Ranges ist wie der Richter oder besser noch einige Stufen höher in der Gesellschaftspyramide steht als dieser; so jemand kann mit Erfolg Anspruch auf Nachsicht und Verständnis erheben. Es ist nur recht und billig, dass derjenige, der sich als tüchtig im Klettern erwiesen hat, auch ein Sicherheitsnetz gestellt bekommt. Das Klettern als Leistung muss belohnt werden. Der eine oder andere Fehltritt ist in dem Gedränge, das weiter unten herrscht, kaum zu vermeiden. Wo würde die Gesellschaft hinkommen, wenn unsere Elite aufgrund einiger bagatellartiger Ordnungswidrigkeiten an ihrem Aufstieg gehindert würde? Die verwegenen Alpinisten der Gesellschaft ebenso wie unsere übrigen (zweifelhaften) Helden können zwar im Ausnahmefall angeklagt werden, wenn sich dann aber der Aufruhr gelegt hat, haben sie keine weiteren Folgen zu fürchten. Ihre Zukunft bleibt gesichert.
Für einen wie Martin, der auf der untersten Stufe der Treppe stehengeblieben ist, sieht die Sache ganz anders aus. Die Richterin wie auch Martin wussten, dass er unschuldig war und man ihn provoziert hatte und dass die Zeugen logen. Trotzdem musste er seine Strafe bekommen. Es ist nicht immer notwendig, den Schuldigen zu finden. Das Wesentliche ist, dass Gesetz und Ordnung um des Gehorsams Willen aufrechterhalten werden und dass vor allem das Volk, das heißt der Pöbel, daran gehindert wird, die Macht zu ergreifen. Es gibt in allzu vielen Ländern allzu viele Angstvolle, die allzu leicht in Sprechchören verlangen könnten, dass die Gerichte, die sie aus vollem Herzen unterstützen und außerdem bezahlen, ein für allemal Schluss machen mit ihrer nachsichtigen Behandlung des Abschaums der Gesellschaft. Auf diese Forderung haben alle gesetzestreuen Bürger ein Anrecht. Toleranz kann man dem Mächtigen gegenüber zeigen, aber nie seinem Sklaven.
Niemand ist ganz unschuldig. Niemand kann seine Unschuld beweisen. Wer auf die andere Seite der Schranke gestellt wird, ist daher ein Verbrecher,
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