Schuldlos ohne Schuld
verschwinden zu sehen. Er lächelt zufrieden. Was kann man sich nicht alles einbilden!
Draußen auf dem Trottoir unter dem grellen Neonschild sind nur zwei Menschen zurückgeblieben. Der eine ist Martin Larsson und der andere ist der Mann aus dem Iran. Derselbe Mann, der vorhin versuchte, Martin anzuspucken, ihn aber nicht traf.
Die beiden Männer betrachten einander mit großer Wachsamkeit. Sie ist von anderer Art als bei dem Mächtigen von vorhin. Beide wissen, dass die Attacke jeden Augenblick kommen kann und niemand sich zu ihrer Verteidigung einfinden wird.
Martin hat die Hand in die Jackentasche gesteckt und umfasst den Revolverkolben. Er will die Waffe nicht verwenden. Er will jeden Streit vermeiden, und er will sich nicht mit diesem Ausländer prügeln, am allerwenigsten will er ihn erschießen. Das ist er nicht wert.
Die beiden Männer starren einander an, und Martin wendet als erster den Blick ab. Nicht aus Feigheit, sondern aus List. Worauf er gehofft hat, das geschieht unmittelbar.
Die Augen des Iraners glänzen vor Hochmut und Verachtung. Gleichzeitig ist er sich der Ausbuchtung in der Tasche des anderen bewusst, und er hat große Erfahrungen mit plötzlicher Gewalt und brutalen Überfällen. Dies ist der Grund, warum er sein Heimatland verlassen hat. Es kann eine Waffe sein, die der Schwede in der Tasche hat. Er hat gelernt, die Gefahr zu erkennen. Er kann sie aus jeder Entfernung wittern. Er weiß auch, dass die meisten Überfälle wie ein Dolchstoß von hinten geschehen. Deshalb steht er seelenruhig da und wartet ab, was passieren wird.
Als sich Martin vorsichtig einige Schritte zurückzieht, um sich dann schnell umzudrehen und sich mit rasenden Schritten zu entfernen, spuckt der Iraner zum zweiten Mal an diesem Abend.
Dann geht auch er davon, aber in entgegengesetzter Richtung. Seine Schritte werden immer selbstbewusster, und sein Gesicht leuchtet vor Stolz. Er hat nichts begriffen.
14
Martin öffnet die Augen und erkennt, dass es Tag ist. Durch einen millimeterbreiten Spalt in der heruntergezogenen Jalousie fällt ein rasiermesserscharfer Streifen blendenden Lichts auf den abgenützten braun gebeizten Schreibtisch dort am Fenster. Die Jalousie schließt völlig ab, wie ein eiserner Vorhang. Von draußen aus dem Hof bei der Kastanie sind erregte Stimmen zu hören. Martin stützt sich gemächlich auf den Ellenbogen, um mehr mitzubekommen. Sehen kann er von oben nicht viel. Dann sinkt er erleichtert auf das nachtwarme Kopfkissen zurück und schließt wieder die Augen. Kinderstimmen. Das einzige Zeichen menschlichen Lebens, das er nicht fürchten braucht. Jedenfalls will er sich das einbilden.
Am liebsten würde er weiterschlafen. Der Schlaf ist ein Trost und eine Labsal. Die einzige Vergebung, die man ihm noch nicht weggenommen hat. Aus einem unerfindlichen Grund ist er jetzt von Alpträumen befreit. Er verbringt die Nächte in einem schweren, traumlosen Dämmerzustand, verschont von jeder Unruhe und Unlust. An den ersten Tagen nach dem Mord gelang es ihm, diesen barmherzigen Zustand um mehrere Stunden zu verlängern. Der Schlaf ist die einzige erstrebenswerte Alternative zum trostlosen Warten im Wachsein.
Martin ist nicht nervös. Er ist nicht beunruhigt oder aufgeregt. Im Gegenteil, er ist apathisch und daher erfüllt von Ruhe, als stünde er unter Drogen. Mechanisch kommen ihm Gedanken, von denen er sich aber nicht beeinflussen lässt. Alles, was außerhalb der Gegenwart liegt, schiebt er von sich. Er weigert sich, sowohl zur Vergangenheit wie zur Zukunft Stellung zu nehmen. Jedenfalls noch nicht.
Es ist schwer, den Körper zu beherrschen. Der lebt sein eigenes, hinterhältiges Leben und nimmt keine Rücksicht auf seine Wünsche. Bereits nach achtundvierzig Stunden weigerte er sich, ihm mehr als acht Stunden nächtlicher Flucht vor der trüben Wirklichkeit zu bewilligen. Es hilft nichts, einfach die Augen zu schließen. Er kann nicht schlafen. Der Körper zwingt ihn, wach zu sein.
Martin steht auf, geht barfuss die wenigen Schritte ins Badezimmer und starrt sein nacktes, feindliches Gesicht im Spiegel an. Er hat nicht gern, was er da sieht. Die Haut ist schon käsig geworden, und es scheint, als seien die Augen dabei, in seinem Schädel zu versinken. Er gleicht immer mehr einem Gefängnisinsassen in Einzelhaft. Die grauen Bartstoppeln machen ihn nicht jünger, und er schüttelt missmutig den Kopf. Er sieht aus, als sei er in den letzten Tagen um zehn Jahre gealtert.
Nach dem Rasieren
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