Schule der Liebe
einschließlich Hannah und Varney, behandelten sie eher wie eine Verpflichtung als wie eine liebe Verwandte, und ihre Großmutter, die gute Frau, wusste nicht einmal mehr, wer Morgana war. Schon während ihrer Kindheit war es ihr so gegangen. Baron Hart war immer viel zu sehr mit irgendwelchen diplomatischen Krisen beschäftigt gewesen, als dass er sich um ein kleines Mädchen hätte kümmern können. Infolgedessen hatte Morgana Zuneigung zu den anderen Menschen in ihrer Umgebung gefasst, zu den Dienstboten und Gouvernanten. Es erschien ihr völlig natürlich, dass Lucys Probleme sie beschäftigten, als seien es ihre eigenen. Hoffentlich würde sie die junge Frau zum Bleiben überreden können.
Genau wie Morgana erwartet hatte, war der Park voller Menschen, die das schone Wetter genossen. Lange Zeit spazierten die beiden jungen Frauen schweigend nebeneinanderher. Als sie bei der Serpentine, dem großen Teich, angelangt waren, begann Lucy: „Ich glaube, ich werde Ihr Haus verlassen, Miss."
„O nein, Lucy! Das kannst du nicht tun!", rief Morgana. Am liebsten hätte sie Lucy gepackt und geschüttelt, bis sie wieder Vernunft annahm. „Was du vorhast, ist doch kein Leben für ein junges Mädchen wie dich!"
„Viele leben aber so, Miss. Ich habe von einer Bordellbesitzerin gehört, die ihre Mädchen gut behandelt."
Eine Bordellbesitzerin! Morgana zuckte zusammen, als sie sich Lucy in einem solchen Etablissement vorstellte. In diesem Gewerbe war weder für Liebe noch für Mutterfreuden Platz. Unter Umständen würde sich Lucy sogar mit einer Krankheit anstecken, an der sie sterben konnte.
Morgana wollte Lucy vor alldem bewahren, doch was konnte sie ihr stattdessen schon bieten? Ein Leben voller harter Arbeit, auch wenn sie eine noch so gütige Dienstherrin war.,
„Lucy, wie wäre es, wenn ich irgendeine andere Tätigkeit für dich fände?"
„Zum Beispiel?", erkundigte sich Lucy mit mäßigem Interesse.
Morgana dachte einen Augenblick nach. „Vielleicht in einem Laden."
„Wo ich den ganzen Tag stehen muss? Das könnte ich nicht." Lucy schüttelte den Kopf.
Morgana zerbrach sich den Kopf nach weiteren Berufen, doch Lucy hatte gegen jeden Vorschlag Einwände.
Krankenpflegerin? Lucy hasste kranke Menschen.
Köchin? Lucy hatte keine Lust, am heißen Herd zu stehen.
Näherin? Dabei würde Lucy sich die Augen verderben.
„Und wenn ich dir ein eigenes Geschäft einrichten würde?
„Ich kann nicht rechnen, Miss Hart", entgegnete Lucy. „Außerdem steht meine Entscheidung fest. Ich werde ins Bordell gehen." Morgana legte ihr die Hand unters Kinn und zwang Lucy, ihr ins Gesicht zu sehen. „Ich glaube, du bist dabei, einen schweren Fehler zu begehen", sagte sie in ruhigem, aber festem Ton. „Noch ist es nicht zu spät. Ich will dich gerne in meinen Diensten und in meinem Haus behalten. Ich werde dich nicht schwer arbeiten lassen. Irgendwann wirst du einen jungen Mann kennenlernen, der dich heiraten will ..."
„Nein!" Lucy entzog sich ihrem Griff. „Eine wie ich heiratet nicht. Ich mochte zu der Bordellbesitzerin gehen. Angeblich bezahlt sie ihre Mädchen gut. Darum geht es mir, Miss Hart. Ich will Geld und hübsche Kleider."
Es war sinnlos. Morgana sah Lucy eine ganze Weile lang starr an, doch ihr fiel nichts ein, was sie noch hätte sagen können. Schließlich wandte sie sich wieder in die Richtung, aus der sie gekommen waren. „Gehen wir nach Hause."
Sie kehrten auf den Hauptweg zurück. Morgana, die schweigend ein paar Schritte vor Lucy herging, musste anhalten, um eine Kutsche vorbeifahren zu lassen.
Durch das Fenster der Kutsche erspähte sie die Frau mit dem rotbraunen Haar, die sie in der Oper gesehen hatte. Harriette Wilson. Die Frau lachte fröhlich, und als sie zufällig in Morganas Richtung blickte, lächelte sie ihr zu, zum Zeichen, dass sie sie wiedererkannte - und es lag auch noch ein anderer Ausdruck in ihrem Lächeln, ein ziemlich selbstgefälliger und herausfordernder Ausdruck, wie Morgana fand.
Neben Miss Wilson saß ein Herr, doch Morgana konnte nicht erkennen, um wen es sich handelte. Jedenfalls war dies eine teure Kutsche, und sie wurde von einem Gespann prachtvoller brauner Pferde gezogen.
Nachdem der Wagen an Morgana vorbeigefahren war, stand sie immer noch wie angewurzelt da, erstarrt von einem Gedanken, der ihr gerade gekommen war.
„Miss Hart?", sprach Lucy sie unsicher
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