Schule der Lüfte wolkenreiter1
geschenkt hatte, hatte es in ihrem Leben keinerlei Zauber gegeben. Kallas Macht konnte man wenigstens sehen. Ihr war es zuzuschreiben, dass Philippa jetzt ans Sterbett des alten Fürsten eilte und den bitteren Anfang einer neuen Ära des Fürstentums miterlebte.
Jolinda erwartete sie bereits grimmig. Philippa glitt aus dem Sattel und berührte vorsichtig Sonis Flügelspitzen mit ihrer Gerte. Während Soni die Flügel zusammenfaltete, sagte Philippa: »Sie hatte einen anstrengenden Morgen, Jolinda. Würdest du ihr den Sattel abnehmen und sie abreiben? Gib ihr doch bitte eine halbe Portion Hafer und etwas Wasser.«
»Ich kümmere mich um sie, Meisterin Winter«, erwiderte das ältere Stallmädchen. »Sie sollten sich beeilen. Die Ärzte wieseln heute Morgen wie die Ameisen im Palast herum.«
Als Philippa an Jolinda vorbeiging, steckte ein braunes Reitpferd mit einem schwarzsilbernen Sattel den Kopf aus einem der Ställe. Wenn sie es richtig in Erinnerung hatte, war es Wilhelms Pferd. Natürlich hielt Wilhelm Totenwache. Sie presste die Lippen aufeinander, als sie die Handschuhe auszog und nach ihrer Kappe griff. Wilhelms ehrgeizige Ziele würden bald Wirklichkeit sein.
Als Philippa die Eingangshalle des Palastes betrat, kam ein schlanker blonder Mann aus der Bibliothek zu ihrer Linken. »Philippa!«, sagte er sanft. »Wie schön, dass Sie da sind.«
Sie war gerade dabei, ihren Reiterknoten zu richten, hielt
jetzt jedoch mitten in der Bewegung inne. »Oh … Frans! Das muss ja schon Jahre her sein!«
Frans, Friedrichs jüngerer Sohn, kam auf sie zu, umarmte sie eingedenk ihrer alten Freundschaft herzlich und drückte seine Wange an ihre. Philippa lächelte ihn an. »Es tut mir sehr leid, dass wir uns nicht unter erfreulicheren Umständen wiedersehen, Frans.«
Wie alle Kinder des Fürsten hatte auch er dunkle Augen, in denen sie die tiefe Sorge bemerkte. »Ich fürchte, es wird nicht mehr lange dauern, Philippa. Es ist gut, dass Sie da sind. Kommen Sie, ich bringe Sie zu meinem Vater.«
»Wie sind Sie so schnell von Isamar hierhergekommen?«, erkundigte sie sich, während sie die Treppe hinaufgingen.
»Ich war schon auf dem Weg«, erklärte er. Auf dem ersten Treppenabsatz hielt er inne. Zwei Diener eilten mit Schüsseln, Handtüchern und ernsten Gesichtern an ihnen vorbei nach unten. Frans sah ihnen nach, was Philippa Gelegenheit bot, ihn unauffällig zu betrachten. Er war beinahe zehn Jahre jünger als sie. Auf den ersten Blick ähnelte er seinem Bruder, aber seine Augen blickten herzlich, und sein Mund war weich und freundlich.
»Ich habe einen Brief von Vater erhalten, in dem er sich über Pamella ausließ und sich beklagte, dass sich niemand für ihr Schicksal interessierte, nicht einmal Mutter. Er muss ihn selbst geschrieben haben. Sein Sekretär hätte zweifellos das meiste korrigiert. Er klang so …« Frans’ Stimme zitterte, und Philippa fiel auf, wie tief seine Stimme verglichen mit der von Wilhelm war. »In dem Brief klang er wie ein verrückter alter Mann, Philippa. Nicht wie der Vater, den ich gekannt habe.«
»Sein Herz ist gebrochen, Frans.«
»Ja.« Frans machte eine einladende Handbewegung, und
sie setzten ihren Weg fort. »Ich weiß. Ihr galt all seine Liebe. Weder Wilhelm noch ich …« Er beendete den Satz nicht, offensichtlich, weil es ihm zu viel Schmerz bereitete, darüber zu sprechen. Philippa legte ihm mitfühlend die Hand auf den Arm. Sie wusste, wie weh es tat, jemanden zu lieben, der die Liebe nicht erwiderte.
Vor der Tür zu den Gemächern des Fürsten trafen sie Andres, der sich vor ihnen verneigte und sie hineinführte.
Philippa hatte ein abgedunkeltes Zimmer, gedämpfte Stimmen und herumeilende Ärzte erwartet. Stattdessen schien die Frühlingssonne durch das Fester, die Samtvorhänge waren zurückgezogen und die Fensterflügel weit geöffnet. »Er möchte seine Pferde sehen«, erklärte Frans. Philippa blickte aus dem Fenster und sah, dass die geflügelten Pferde draußen auf den Wiesen grasten. Sie trugen ihre Flügelhalter, liefen jedoch frei auf der Weide herum. Offensichtlich waren die Ärzte weggeschickt worden. Nur Wilhelm saß am Bett des Fürsten.
Als Philippa und Frans eintraten, stand er auf und nickte beiden zu. Er war so gekleidet, wie Philippa ihn in letzter Zeit immer gesehen hatte, mit einer engen schwarzen Hose, einem weißen Hemd mit weiten Ärmeln und einer bestickten Weste. Seine Frisur wirkte ein wenig zerzaust, doch Wangen und Kinn waren glatt
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